Es gibt Orte, die finden einen. Nicht umgekehrt. Castania war so einer. Ich hätte ihn wohl nie entdeckt, wenn mich nicht ein Freund aus der Gegend an einem warmen Spätnachmittag ins Auto eingeladen hätte. „Ich will dir was zeigen, was du so schnell nicht vergisst“, hatte er gesagt. Und recht behalten.
Oft führen Zufälle zu den schönsten Erlebnissen. Normalerweise plane ich meine Urlaubsreisen, schaue, welche Fotospots es gibt und baue mir eine Karte mit möglichen Motiven. Diesmal habe ich dafür kaum Zeit gefunden. Die Recherche wäre auch schwieriger geworden. Der wohl beste Reiseführer über Sizilien, der DuMont Kunst Reiseführer Sizilien: Griechische Tempel, römische Villen, normannische Dome und barocke Städte im Zentrum des Mittelmeeres widmet der Küste zwischen Cefalù und Messina gerade einmal 5 Seiten.
Ganz zu Unrecht. Die Gegend ist unglaublich spannend und braucht sich vor dem Rest der Insel nicht zu verstecken. In dieser gegend kenne ich einen Fotografen. Ich habe ihn vor unserer Reise nie persönlich getroffen. Wir waren im Internet aufeinandergetroffen und sind beide Mitglieder in einer Fotografengruppe. Ich habe ihn angeschrieben und gesagt, dass wir im Frühjahr in Sizilien sind und er hat mich ganz spontan zu einer Fotosafari eingeladen.
Von unserem Urlaubsort Capo d’Orlando fuhren wir über kurvige Straßen tief ins Hinterland Siziliensin die Berglwelt der Monti Nebrodi. Irgendwann stiegen wir aus. Die Sonne stand schon tief. „Da drüben liegt Castania“, sagte er. „Ein ganzes Dorf. Verlassen, verwildert und lange unter Schlamm begraben.“ Ich war sofort hellwach.

Castell’Umberto – Die Stadt, die vorher an einem anderen Ort war
Seine Heimatstadt heißt heute Castell’Umberto und ist für Sizilianische Verhältnisse recht jung. 1865 wurde er gegründet. Tatsächlich ist der Ort aber uralt. Wer die Ursprünge der Stadt sucht, der muss noch ein Stück weiter nach Castania fahren. Heute ist es ein verschlafenes Nest. Aber eines mit reicher Geschichte. Denn Castania ist das historische Castell’Umberto. Der Legende gründeten Griechen, die nach der Zerstörung Trojas auf Sizilien Zuflucht suchten, den Ort und nannten ihn Castrum Aenea, also Festung des Äneas.

Nach den Griechen kamen die Römer, nach ihnen die Byzantiner. Castania blieb über die Jahrhunderte ein wichtiger Ort. Auch militärisch: Um 800 n. Chr. die Sarazenen mit der Invasion Siziliens begannen, errichteten die Byzantiner an strategisch wichtigen Positionen ein ausgeklügeltes Verteidigungssystem mit Türmen und Festungen, so auch in Castania. Gut zweitausend Jahre überstand der Ort alle Stürme der Geschichte. Im 19. Jahrhundert war der Ort jedoch nicht mehr zu halten. Grund dafür waren heftige Erdrutsche. Besonders schwerwiegend waren jene in den Jahren 1793 und 1864. Sie spülten einen Großteil des Ortskerns in das darunter liegende Tal und bedeckten die Ruinen teilweise meterdick mit Schlamm.
Neuanfang mit neuem Namen
Nach diesen Tragödien verzichteten die Bewohner auf einen Wiederaufbau an gleicher Stelle. Stattdessen gründeten sie den Ort ein Stück weiter nördlich neu. Dabei wollten sie wohl auch den alten Namen hinter sich lassen. Jedenfalls benannten sie die neue Siedlung nach König Umberto I. von Savoyen Castell’Umberto. Der neue Ort entwickelte sich prächtig, während das alte Castania in einen Dornröschenschlaf verfiel. Und so ist es eigentlich heute noch. Ganz behutsam haben Freiwillige in den vergangenen Jahren den alten Ortskern freigelegt.

Hervorgekommen ist eine verwunschene Ruinenstadt mit dem Charme eines riesigen Lost Places. Einen, den ich an diesem Abend nahezu für mich alleine habe. Außer mir sind nur meine Begleiter dort. Gemeinsam streifen wir durch eine Kulisse, wie sie sich ein Filmregisseur nicht besser ausdenken könnte. Die Wege sind überwuchert, das Gras reicht mir bis an die Waden. Es riecht nach Erde, Stein und nach Zitrusfrüchten, die hier offenbar wild wachsen. Zwischen den Ruinen entdecken wir wilde Orchideen, und hier und da ragen Mauerreste aus dem üppigen Grün.
Braunes Gestein und eine bunte Kuppel – Castania im Abendlicht
Gerne lasse ich mich hier treiben. Die Überreste sind nach den Erdrutschen seltsam farblos. Der ganze Ort war aus braunem Gestein errichtet, fast einheitlich und schwer. Es ist, als hätte die Katastrophe dem Ort sämtliche Farbe entzogen. Nur ein Bauwerk hat sich dem offenbar erfolgreich widersetzt. Schon von weiten fällt mir das mit Keramikfließen bedeckte Dach des Glockenturms der Kirche Santa Barbara auf. Die Abendsonne bringt sie zum Glühen und bringt ihre Farben zum Leuchten. Was für ein Gegensatz zum sonst eher schlichten Äußeren der Kirche, die wie ein trotziges Relikt aus einer anderen Zeit vor mir steht. Auch wenn sie nahezu vollständig erhalten ist, haben die Bewohner sie verlassen. Und wichtige Ausstattungsgegenstände mitgenommen. Die Statue der Heiligen Barbara, die sich einst in einer Steinnische über dem Eingang befand, steht heute in der neuen Pfarrkirche von Castell’Umberto.

Abendwanderung durch ein vergessenes Dorf
Mein Weg führt mich in die Ruinen des Klosters San Vincenzo Ferreri. Dominikaner haben es im Jahr 1444 gegründet. Heute stehen hier nur noch ein paar Außenmauern, die Reste der Apsis hier, einer Seitenkapelle und zwei Turmstümpfe. Es ist unglaublich spannend, hier auf Entdeckungsreise zu gehen.

Doch ich habe gar nicht mehr so viel Zeit. Die Sonne beginnt langsam, hinter dem Horizont zu versinken. Es zieht mich immer tiefer in die Ruinen des alten Dorfes. Ich folge verwachsenen Pfaden, die einst Hauptstraßen des Ortes waren. Plötzlich stehe ich auf dem historischen Dorfplatz. Ich bleibe stehen, lasse den Blick schweifen über das, was einmal das Herz von Castania gewesen sein muss. Blicke in leere Häuser und frage mich, was zischen den Mauern wohl alles geschehen ist. Hier tobte einst das Leben. Kinder wurden geboren, Menschen wuchsen auf, arbeiteten in den Gärten und Werkstätten, saßen abends zusammen, feierten Feste – und starben irgendwann, so wie es in jedem Dorf geschieht. Hier ist davon nichts mehr übrig. Keine Stimmen, kein Lachen, kein Klappern von Geschirr oder Werkzeugen hallt mehr durch die Straßen. In Castania regiert die Stille. Eine Stille, die unglaublich schön ist und viel Raum für Fantasie lässt.

Was bleibt? Was kommt?
Ich hoffe, dass das so erhalten bleibt. Es gibt Pläne, den Ort wiederzubeleben. Das Klosterareal soll zu einer Freilichtbühne werden und der alte Dorfkern touristisch erschlossen werden. In einem ersten Schritt wurden die Hauptwege vorsichtig von Geröll und Gestrüpp befreit und ein Rundweg durch das Gelände angelegt. Doch Castell’Umberto ist abgelegen. Vielleicht liegt gerade in der Abgeschiedenheit eine Chance: Massen von Touristen wird man hier wohl auch in Zukunft nicht erwarten können– und das ist gut so. Stattdessen könnte sich hier ein sanfter, respektvoller Tourismus entwickeln. Menschen, die mit offenen Augen kommen. Die respektvoll hinsehen, statt zu stören. Die entdecken, ohne zu zerstören. Was auch immer geschehen mag: Ich komme wieder und werde davon berichten.





















