Tacheles revisited: Exit Through the Gift Shop

Berlin ist für mich mehr als nur ein Ort – es ist ein Gefühl. Fotografisch ist die Stadt sowieso unglaublich vielseitig. Lange habe ich dort gelebt. Die Stadt hat mich geprägt, mir Freiräume eröffnet, mich inspiriert – manchmal auch überfordert. Aber vor allem hat sie mich nie losgelassen. Auch heute noch zieht es mich regelmäßig zurück. Berlin verändert sich ständig, bleibt aber immer Berlin. Die Stadt hat viele Gesichter. Und noch mehr Geschichten. Manche davon sind laut, bunt, wild – und irgendwann plötzlich vorbei. Und ich? Habe sprichwörtlich immer einen Koffer in Berlin. Die Stadt wird immer ein Teil von mir sein und ich bleibe im Herzen Berliner. Bei jedem Besuch streife ich durch alte Viertel, entdecke Neues und stoße immer wieder auf Spuren meiner eigenen Vergangenheit. So wie das Kunsthaus Tacheles an der Oranienburger Straße.

Achtung Spoiler: Das Tacheles ist nicht mehr. Ein Ort, der einmal Freiraum für Kunst, Chaos und Subkultur war, ist heute Heimat des Fotografiska Berlin.

Einer meiner letzten Besuche in Berlin führte mich genau dorthin – zu einem Lost Place meiner Jugend. Damals, in den späten 90ern und frühen 2000ern, war ich oft dort. Das Tacheles war mehr als nur ein besetztes Gebäude oder ein alternatives Kunsthaus. Es war ein Ort des Aufbruchs, des Chaos, der Kreativität – ein Freiraum für wilde Vögel, schräge Kunst und noch schrägere Theater-Performances, bei denen ich schnell gelernt habe, dass es unklug ist, sich während der Aufführungen in die erste Reihe zu setzen.

Ich erinnere mich an den Innenhof, in dem riesige Skulpturen aus Schrott, Stahl und viel Farbe herumstanden, die wummernde Elektromusik, die das Areal beschallte. Und an das Café Zapata, wo ich manchmal stundenlang saß und Tee trank. So viel, dass der Mann hinter dem Tresen mich irgendwann fragte, wie man nach so viel Tee noch so ruhig sein könne. „Ich bin Ostfriese“, sagte ich. Damit war alles klar. Er nickte und reichte mir noch einen Tee.

Wie oft bin ich die Stufen im vor Graffiti strotzenden Treppenhaus rauf und runtergelaufen, um ins Kino „High End 54“ oder die „Panorama-Bar“ zu kommen. Das war schon damals ziemlich beeindruckend. In jedem Winkel des sich ständig verändernden Gebäudes gab es immer wieder Neues zu entdecken. Das Tacheles war wie ein lebendiger Organismus, der Kunst schuf, für wilde Nächte sorgte oder schräge Filme zeigte. Und in dem der Protest gegen Kommerzialisierung und Kapitalismus zu Hause waren. The fundamental things apply as time goes by.

Was von damals geblieben ist? Ein paar verblassende Fotos. 1997 aufgenommen mit einer Quicksnap, dementsprechend verwaschen, aber voller Erinnerungen, die sich tief eingebrannt haben. Und die bei jedem Berlin-Besuch hochkommen.

Die verfallene Rückseite des Gebäudes im Juli 1997. Durchlöchert vom Krieg und den Jahrzehnten danach. Hier war nichts geplant, alles improvisiert und ständig in Veränderung. Genau das machte den Zauber des Tacheles aus.

    Rückseite des Kunsthauses Tacheles in Berlin, fotografiert am 25. Juli 1997. Die Hauswand ist großflächig mit einem farbenfrohen, detailreichen Wandbild bedeckt, das zahlreiche surrealistische Figuren und Symbole zeigt. Im Vordergrund überwucherter Garten, ein besprühter Mülleimer und Graffiti auf weiteren Wandflächen. Die Szene dokumentiert die künstlerische Ausdruckskraft der Berliner Subkulturszene der 90er-Jahre.
Urbaner Dschungel mit Kunst am Bau. Das Tacheles 1997.

Das Tacheles im Wandel: Ein Lost Place, der bleibt

Heute ist alles anders. Das Tacheles wurde am 4. September 2012 geräumt. Die Künstlerinnen und Künstler? In alle Winde verstreut. Der Bau selbst blieb, da er unter Denkmalschutz stand. Das, was einmal das Künstlerhaus war, wurde aufwendig saniert. Und drumherum: elf neue Gebäude mit Wohnungen, Büros, Einzelhandel. Entworfen vom einem renommierten Architekturbüro. Aus der legendären Ruine ist ein Luxusviertel geworden. Hochwertig und teuer. Eine 250-m²-Penthousewohnung ging für fast zehn Millionen Euro weg. Und die Ruine ist immer noch Ruine. Aber eine total durchsanierte Ruine. Was auch irgendwie schräg ist.

Frontansicht des Gebäudes der Fotografiska Berlin, einem Museum für zeitgenössische Fotografie, Kunst und Kultur. Das Gebäude ist mehrstöckig mit großen Fenstern und Rundbögen im Erdgeschoss. Über dem Eingang befindet sich ein Schriftzug mit dem Namen des ehemaligen Kunsthauses „Tacheles“. Vor dem Gebäude stehen Autos, Fahrräder und einige Passanten. Die Szene wirkt urban und leicht winterlich, mit kahlen Bäumen und gedämpften Farben.
Die Straßenseite des ehemaligen Tacheles 2025.

Im einstigen Kunsthaus Tacheles hat heute das Fotografiska Berlin seinen Sitz. Wo früher Kunst aus Schrott stand, wird jetzt wieder Kunst gezeigt, verkauft oder gespeist. Und doch ist alles anders. Das Restaurant im ehemaligen Tacheles heißt Verōnika. Der Stern findet, dass die Hauptstadt dort ein bisschen New York City ist. Das Café Zapata? Ist jetzt der Museumsshop. Exit through the gift shop. Banksy lässt grüßen.

Aufnahme der sanierten Fassade des ehemaligen Kunsthauses Tacheles in Berlin im Jahr 2025. Die Struktur des alten Gebäudes ist noch deutlich zu erkennen, wurde jedoch modernisiert und mit großen Glasflächen versehen. Im Erdgeschoss befinden sich Cafés und Geschäfte, im Hintergrund ist der Eingang zum Fotografiska Berlin unter einem großen Rundbogen sichtbar. Die Umgebung wirkt aufgeräumt und architektonisch durchgestaltet.
Die Rückseite scheint die Zeiten überdauert zu haben. Doch der Schein trügt. Alles ist perfekt durchsaniert und gesichert. Die historische Fassade ist geblieben, die Fenster sind neu.

Was bleibt, wenn alles vergeht?

Sollte man darüber traurig sein? War früher alles besser? Ich glaube nicht. Alles hat seine Zeit. Und das Tacheles hätte in der heutigen Zeit wohl nicht mehr funktioniert. Es war ein Produkt der 90er – jener wilden Jahre nach dem Mauerfall, in denen Berlin sich neu erfand. Es brauchte diesen ganz besonderen Freigeist der 90er – die Mischung aus Hoffnung, Rebellion, Vision und Verfall. Also all das, was mich auch nach Berlin gezogen hat. In dieser Form wäre es heute wohl nicht mehr denkbar. Und der morbide Charme verfallener Gebäude hat seine Faszination – aber auch ein Verfallsdatum. Lost Places kommen und gehen. Und jede Generation muss sich ihre eigenen Freiräume schaffen, in denen Neues entstehen kann. Alles ist im stetigen Fluss. Oder wie es Goethe ausdrückte:

Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar stehts Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.

Johann Wolfgang von Goethe: Eins und Alles.

Deshalb: Nein, ich bin nicht schwermütig. Ich bin dankbar. Für das, was war. Und dass ich es erleben durfte. Und für all die vielen Menschen, die mir seinerzeit über den Weg gelaufen sind. Ich erinnere mich gerne an all dies. Und wenn ich mir die Bilder von heute anschaue, dann sind sie wie eine Brücke in die Vergangenheit.

Vielleicht habe ich die aktuellen Bilder deshalb in einem leicht schmutzigen Vintage-Look entwickelt. Weil dieser Look dem Tacheles am nächsten kommt, wie ich es erinnere. Unperfekt, lebendig, schillernd, dreckig, obskur und frei von Konventionen. Ein Echo aus einer anderen Zeit.

Und auch wenn das Tacheles heute nur noch eine Hülle ist – in meinen Bildern und in meinen Gedanken bleibt es lebendig. Und das Fotografiska? Ist durchaus einen Besuch wert. Aber das ist eine andere Geschichte.

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