Es ist Winter. Draußen ist es kalt, grau, matschig. Eine bedrückende Schwere liegt in der Luft. Die Wolken hängen so tief, dass ich sie fast greifen kann. Ich sehne mich nach einer Auszeit. Nach Weite. Und einem Platz, an dem sich meine Gedanken frei entfalten können. Kurzum: Als altes Nordseekind sehne ich mich nach Marsch. Jene karge, fast baumlose Landschaft, die in ihrer rauen Schlichtheit eine unglaubliche Ruhe ausstrahlt. Mir Raum für Gedanken und Träume lässt. Das geht auch meiner Familie so. Kurzerhand sind wir daher über ein Wochenende nach Pellworm gefahren. Eine Insel, die ich zuvor noch nicht besucht hatte, die mich aber sofort in ihren Bann gezogen hat.
Aber der Reihe nach. Wer Kinder hat, kennt das Problem: Mit dem Nachwuchs spontan in den Urlaub zu fahren, kann ganz schön kompliziert sein, wenn die Schule den Reiserhythmus vorgibt. So auch hier: Abfahrt nach Unterrichtsschluss um eins, im Winter gibt es nur wenige Fähren – die erste erreichbare fährt abends um halb sieben. Am Sonntag müssen wir bereits früh zurückkehren – der Fährfahrplan und die Schule müssen in Einklang gebracht werden. Viel Spielraum bleibt nicht, denn die einzige realistische Verbindung für die Rückfahrt ist die Fähre um 13:45 Uhr.
Man könnte sich davon stressen lassen: Ein kurzer Urlaub, der sich noch kürzer anfühlt. Gerade angekommen, schon wieder packen. Der Urlaub endet, bevor sich die Erholung einstellt. Und dafür anderthalb Stunden mit dem Auto fahren? Lohnt sich das?
Unbedingt. Pellworm bedeutet vor allem Entschleunigung. Und die beginnt bei uns schon bei der Anreise. Unmittelbar nach Schulschluss fahren wir an die Nordsee, obwohl wir wissen, dass unsere Fähre erst Stunde später ablegen wird.
Vor zwei Jahren waren wir im Winter für ein verlängertes Wochenende auf Nordstrand, von wo aus die Fähre abfährt. Damals haben wir das Café in der Engelmühle entdeckt und für gut befunden. Auf der Hinfahrt entscheiden wir uns schnell für einen Abstecher dorthin, um die lange Wartezeit mit leckerem Kaffee und Kuchen zu überbrücken. Wenig später sitzen wir vor einem Berg aus Sahne, Mürbeteig und Pflaumenmus: der Friesentorte.

Gestärkt brechen wir nach Strucklahnungshörn auf. Ein Hafen mit einem schöneren Namen? Kaum vorstellbar. Ein Ort, der entlegener klingt? Ebenso wenig. Hier gibt es nichts. Keine Läden, keine Restaurants, nur Einsamkeit und Wind.

Sogar der Verkaufsautomat für die Fährtickets ist über den Winter abgebaut. Und der Warteraum erinnert eher an eine Bushaltestelle und ist im Februar ebenso ungemütlich. Da hat selbst die Fährlinie, die Neuen Pellwormer Dampfschiffahrts GmbH Mitleid und erlaubt ihren Gästen, bei schlechtem Wetter bis zur Abfahrt des Busses an Bord zu bleiben. Wenn denn eine Fähre da ist. Lost in Strucklahnungshörn.

Als wir in den Hafen kommen, sind wir zunächst alleine dort. Nach und nach verirren sich nur wenige Menschen in den Hafen, der nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag hat(-te).1
Die Fahrräder hatten wir gar nicht erst mitgenommen und unser Auto auf dem großen Parkplatz am Fährhafen stehen lassen– eine goldrichtige Entscheidung. Mit leichtem Gepäck warten wir geduldig auf die Fähre, die extrem pünktlich kommt.
Eine halbe Stunde später sind wir auf Pellworm. Das Inseltaxi sammelt uns ein und bringt uns zu unserer Unterkunft. Am anderen Ende der Insel, direkt neben der alten Inselkirche, erwartet uns eine wunderschöne Ferienwohnung. Die Entschleunigung beginnt schon, als wir unser Gepäck in die Unterkunft bringen und bald darauf die Füße hochlegen können.
Ich bin ja auch im Urlaub gerne früh unterwegs. So auch auf Pellworm. Früh (das ist im Winter ja recht human) breche ich auf, um den Sonnenaufgang zu erleben. Nun ja. Es ist bewölkt, und die Sonne zeigt sich nicht direkt – aber immerhin bringt sie etwas Farbe an den Himmel. Ich bin trotzdem sehr zufrieden mit dem, was sich da vor meinem Auge auftut. Die Stille der Morgenstunden, das sanfte Licht und die Weite der Landschaft machen den Moment besonders.

Danach geht es zurück – Zeit für ein gemütliches Frühstück mit der Familie. Frischer Kaffee, knusprige Brötchen und der Duft von Rührei füllen den Raum, während wir den Tag planen. Gut gestärkt ziehen wir anschließend die Wanderschuhe an und brechen zu einer ausgedehnten Wanderung entlang der Deiche auf. Der Wind weht uns um die Nase. Über uns kreisen Möwen und unzählige Gänse. Das Watt liegt still und endlos da. Der Horizont ist ein gerader Strich, der die Weite teilt. Perfekt, um die Gedanken fliegen zu lassen.

Aber es ist kalt. Sehr kalt. Das Wetter zeigt sich von seiner winterlichen Seite: eisige Temperaturen und kräftiger Wind begleiten uns durch das Wochenende. Ein Teil der Familie kehrt nach dem Besuch des Rungholtmuseums um und will sich in der Ferienwohnung aufwärmen. Zum Glück nimmt sie ein netter Autofahrer, den wir spontan stoppen, mit und bringt sie bis zur Unterkunft.
Ich hingegen setze meinen Weg fort, Schritt für Schritt. Während einer 12 Kilometer langen Wanderung erkundete ich die Insel, durchquere verschlafene Straßendörfer, lasse mich von der besonderen Aura in der Neuen Kirche (sie dort auch schon seit etwa 1621 steht) einfangen und genieße die einsame Weite. Ein wenig erinnert mich die von prielartigen Wasserläufen durchzogene Insel an die Halligen. Wie dort stehen auch hier viele Häuser auf Warften. Dazwischen Stille, sich endlos ausdehnt.

Und doch überrascht mich die Insel immer wieder. Irgendwo im Nirgendwo steht ein öffentlicher, und gut gefüllter Bücherschrank. Auf meinem weiteren Weg begegne ich niemandem. Sehe nicht einmal Autos fahren. Die wenigen Restaurants sind alle noch in der Winterruhe.

Allmählich wird es dunkel. Ich mache mich auf den Heimweg. Kurz vor unserer Ferienwohnung zieht mich ein schwacher Lichtschein aus der Kirche magisch an. Wenig später stehe ich vor dem altehrwürdigen Gemäuer.

Ich habe Glück: Die Tür ist offen. Leise trete ich und werde von den warmen Tönen der Arp-Schnittger-Orgel empfangen. Die Atmosphäre ist einmalig. Die Kirche ist spärlich beleuchtet. Außer der Orgelspielerin und mir ist niemand hier. Ein Konzert ganz für mich alleine. Ein unglaublich schöner Moment.

Aber der Tag ist noch nicht vorbei. Am Abend gehe ich mit meiner Familie in eines der wenigen Restaurants, die auch im Winter zumindest zeitweise geöffnet haben. Nach dem langen Fußmarsch des Tages bin ich etwas müde. Da trifft es sich gut, dass das Restaurant Zur alten Inselkirche direkt neben unserer Unterkunft liegt. Die Einrichtung ist rustikal und erinnert an eine Dorfkneipe. Auch die Speisekarte bietet genau das, was ich hier suche: klassische nordfriesische Küche. Und die wird hier sehr lecker zubereitet. So lassen wir den Tag bei einem fantastischen Essen ausklingen.

Am nächsten Morgen sind wir schon früh auf den Beinen. Der Schulrhythmus lässt uns auch am Wochenende nicht los. Nach dem Frühstück bereiten wir uns auf die Rückreise vor. Wer nur kurz verreist, hat nicht viel zu packen. Die wenigen Dinge sind schnell verstaut und so stellen wir mit einem Blick auf die Uhr erstaunt fest, dass wir noch unglaublich viel Zeit haben. Also ziehen wir noch einmal los.

An diesem Sonntag hat der Wind nachgelassen. Es ist kalt, aber nicht unangenehm draußen. Wir drehen noch eine größere Runde rund um unser Ferienquartier, ehe uns das Taxi einsammelt und zurück zum Fährhafen bringt.
Am Ende waren wir also tatsächlich nur anderthalb Tage auf der Insel. Aber die fühlten sich deutlich länger an. Auf Pellworm laufen die Uhren langsamer. Während ich mich sonst durch Nachrichten, Alltagsstress und ständige Erreichbarkeit oft ausgelaugt fühle und kaum zur Ruhe komme, habe ich auf Inseln immer das Gefühl, dass alles etwas weiter weg ist und in den Hintergrund rückt. Auch wenn dies nur für kurze Zeit möglich ist. Umso wertvoller sind die kleinen Fluchten.

Und Pellworm? Was die Insel so besonders macht? Vielleicht ist es genau das, was sie nicht hat: Es gibt keine überlaufenen Strände, keine gnadenlos kommerzialisierten Attraktionen, keine Hektik. Die Insel scheint in sich zu ruhen. Sie ist ein Ort für Menschen, die nicht nach Ablenkung, sondern nach Weite und Stille suchen. Die sich freuen, dass man einfach mal nichts tun kann. Macht das glücklich? Absolut! Denn manchmal ist Nichtstun die schönste Art, sich selbst etwas Gutes zu tun.
Ich bin mir sicher: Das war nicht mein letzter Besuch auf Pellworm. Und den Winter werde ich auch überstehen. Er kann ja auch ganz schön sein.
1 Ich habe es mir natürlich nicht nehmen lassen, den Artikel zu schreiben: Strucklahnungshörn