Friedhöfe haben für mich eine ganz eigene Magie. Nicht, weil sie Orte des Todes sind. Für mich sind sie stille Erzähler, Spiegel des Lebens und der Gesellschaft. Oder auch Zeugen von Liebe, Verlust und Erinnerung. Besonders angetan haben es mir die alten Friedhöfe in Ostfriesland. Ihre Grabsteine sprechen oft eine poetische Sprache, voller Symbolik und Geschichten, die den Besuchern vom Leben und Sterben der hier Bestatteten berichten. Einer dieser Orte hat sich mir besonders ins Herz gegraben: der historische Friedhof in Greetsiel.
Ein unscheinbarer Ort, könnte man meinen. Doch ich habe schon oft erlebt, dass gerade in der Schlichtheit oft die tiefsten Gefühle wohnen. So auch in Greetsiel. Dort steht neben dem seitlichen Eingang zur Kirche ein Grabstein, der mich von Anfang an gefesselt hat. Es ist kein aufwendiges Monument, keine prunkvolle Skulptur. Im Gegenteil: Der Stein ist sehr schlicht, fast übersehbar. Und doch hat er eine magische Anziehungskraft, die mich immer wieder zu ihm zurückführt.
Der Schlüssel zu seinem Zauber liegt in den Details. Eine zerbrochene Vase krönt den Stein – ein Sinnbild für ein Leben, das viel zu früh zerbrochen ist. Als ich das Grab erstmals sah, war mir schnell klar: Hier ruht ein Kind. Die Höhe des Steins, die trauernde Symbolik – alles deutet auf eine kurze Lebensspanne hin. Bei meinem letzten Besuch habe ich mich genauer mit der Inschrift beschäftigt.
Auf der dem Weg abgewandten Seite steht geschrieben:
Hier ruhet Antje Hinderika Ippen
geboren den 26. Juni 1839
gestorben den 25. März 1842
zu Greetzijl
Zwei Jahre und 272 Tage – das war die Lebenszeit von Antje Hinderika. Noch nicht einmal drei Jahre alt durfte sie werden. Ein flüchtiger Moment im Strom der Zeit, und doch war ihr Leben bedeutsam genug, um solch tiefe Spuren zu hinterlassen.
Doch es ist die andere Seite des Grabsteins, die mich jedes Mal sprachlos macht. Dort stehen nur drei Worte:
„So war sie.“
Keine Beschreibung, keine Aufzählung von Tugenden oder ein Bibelvers, wie sie sonst auf alten Gräbern oft zu finden sind. Keine Informationen über ihre Familie, ihren Charakter, ihre Eigenheiten. Nur diese schlichte Aussage.
Und doch sagt sie alles. „So war sie.“ Ein Satz, der mir unter die Haut geht. Die Eltern von Antje Hinderika hätten seitenweise über ihr geliebtes Kind schreiben können – über ihr Lachen, ihre ersten Schritte, ihre vielleicht zu kurzen Momente des Glücks. Doch stattdessen entschieden sie sich für diese drei Worte. Vielleicht, weil es unmöglich war, das Wesen dieses kleinen Mädchens in Sprache zu fassen. Vielleicht, weil die Erinnerung an sie für jene, die sie kannten, so lebendig war, dass mehr Worte nicht nötig schienen. Vielleicht aber waren die Eltern in so tiefer Trauer, dass es ihnen unmöglich war, mehr zu schreiben.
Ich bleibe oft lange vor diesem Stein stehen. Die Worte fordern mich auf, innezuhalten und mir vorzustellen, wie Antje Hinderika gewesen sein mag. Sie lassen Raum für Fantasie, für Mitgefühl, für die Frage, was bleibt, wenn ein Leben so früh endet.
Oft habe ich Friedhof und Kirche fotografiert und mich dabei immer wieder gefragt, wie ich diese tiefe Emotion in ein Bild bannen könnte. Meine Lieblingsaufnahme ist eine nächtliche Aufnahme des gesamten Friedhofs nebst Kirche und alter Vikarie. Die Dunkelheit schuf eine ganz besondere Atmosphäre – fast so, als ob der Ort selbst zu flüstern begann. Genauso fühlte es sich vor Ort an, als ich zu später Stunde mein Stativ aurichtete.
Die lange Belichtungszeit fing das fahle Licht der Sterne ein, das durch die dahinziehenden Wolken fiel und für einen Hauch von Mystik sorgte. Der Friedhof selbst leuchtete im schwachen Schein einer Lampe, die am Eingang des Friedhofs stand, während der Rest in geheimnisvolle Schatten gehüllt blieb.
Die zerbrochene Vase auf Antje Hinderikas Grabstein, fast unsichtbar im Tageslicht, wurde durch die Beleuchtung in der feuchten Nachtluft zart hervorgehoben. Für mich zeigt das Bild die Stille der Nacht, das Vergehen der Zeit und die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens im Angesicht der unermesslichen Weiten des Universums. Die Dunkelheit unterstreicht die Wehmut dieses Ortes. Ausdrücklich lade ich dich dazu ein, über die Geschichten nachzudenken, die in den Steinen eingeschrieben sind. Das geht in tagsüber von Touristen gerne mal überlaufenen Orten wie Greetsiel nachts, wenn alles schläft, oft am besten.
Antje Hinderikas Grab ist für mich ein Mahnmal. Es erinnert mich daran, wie kostbar jedes Leben ist – ob lang oder kurz. Und daran, wie viel Bedeutung in Einfachheit liegen kann. Drei Worte haben es geschafft, mehr über das Wesen eines kleinen Mädchens zu sagen, als es ein Roman je könnte.
„So war sie.“ Fast 200 Jahre nach ihrem Tod stehe ich vor ihrem Grabstein und wünschte, ich hätte sie gekannt, um mehr über sie zu erfahren.
Lieber Matthias, auch mir ging die Geschichte um die Inschrift des Grabsteines unter die Haut „So war sie“. Nur die nächsten Angehörigen wissen wohl tatsächlich wie sie war. Ich habe meinen Bruder im Alter von 20 Jahren durch einen Unfalltod verloren. „So war er“….. Danke für deinen Bericht. Gruß Alice
Liebe Alice,
es berührt mich sehr, was du schreibst. Der Verlust eines geliebten Menschen, besonders so früh, ist unvorstellbar schwer. Es tut mir leid, dass du diese Erfahrung machen musstest. Fühl dich umarmt. Danke, dass du deine Gedanken mit mir geteilt hast.
Herzliche Grüße,
Matthias
Lieber Matthias,
so innig geschrieben dein Text und so berührend das Foto. „Sie“ bzw. ihr Grabstein steht ganz dicht – wie beschützt – an der Kirchenmauer, wirft einen Schatten an die Wand. Für mich stellt das ein Symbol von Verbundenheit und Nähe dar.
Alle hinterlassen Spuren, auch die Kinder, die wir viel früh gehen lassen mussten. Meine Schwester starb nach nur 8 Wochen Lebenszeit. Zwei Jahre später wurde ich geboren. Meine Mutter hat die Erinnerung an sie von Anfang an mit mir geteilt, wofür ich sehr dankbar bin. Heute noch fließen uns Tränen über die Wangen, wenn sie erzählt, wie sie die Zeit damals erlebt hat.
Danke für diesen berührenden Beitrag, lieber Matthias!
Herzliche Grüße
Sabine
P.S.: Ich habe ganz aktuell ein Gedicht von Wilhelmine Siefkes vertont, das passt sehr dazu: „Un büst ‚t ok neet“
Liebe Sabine.
Ich bin tief beeindruckt von Deinen sehr persönlichen Worten und Deiner persönlichen Geschichte. Es berührt mich sehr, wie Deine Familie die Erinnerung an Deine Schwester bewahrt hat und wie diese Verbundenheit bis heute spürbar ist. Es zeigt, wie tief die Spuren derer, die uns verlassen, in unseren Herzen weiterleben.
Dass Du das Gedicht von Wilhelmine Siefkes vertont hast, finde ich großartig – es passt wirklich wunderbar zu dem Thema. Vielleicht magst Du es mir einmal schicken? Ich würde mich sehr freuen, es zu hören.
Dir alles Liebe aus Kiel
Matthias
Auch ich besuche gern alte Friedhöfe und stehe vor einem Grab, nachdenkend was für eine Person er/sie/es war. Bei meinem Besuch in Norden im August 2023, lief ich über den alten Friedhof der Ludgeri Kirche. Es sind noch ca. eine Handvoll Grabsteine vorhanden, vom Wetter stark beschädigt und kaum noch lesbar. Vor 65 Jahren gab’s mehr. Wie ein Kreislauf unseres Lebens sind auch die wenigen noch vorhandenen Grabsteine irgendwann im Erdboden versunken. Und so wie sie es tun und ein historisches „Bilderbuch“ erschaffen, finde ich sehr lobenswert. Danke für Ihre Besuche von Friedhöfen und das Teilen in diesem Forum.
Meine Mutter starb mit 38 Jahren. “ Sie war bescheiden…“ könnte man auf ihrem Grabstein geschrieben haben. Aber es gibt ihr Grab nicht mehr. Dafür lebt sie aber in meinem Herzen fort.
Hallo Ingrid Tiesler-Wood. Vielen Dank, dass Sie Ihre Gedanken und Erinnerungen mit uns teilen. Es berührt mich, wie Sie die Vergänglichkeit auf den Friedhöfen und in der Natur mit den persönlichen Erinnerungen an Ihre Mutter verbinden. Ich finde es schön, wie tief solche Orte uns mit der Vergangenheit, aber auch mit unserem eigenen Leben verbinden können.