Haus 3 im Anscharcampus: Vom Krankenhaus zum verlorenen Lostplace

Die Wik ist ein Stadtteil, der Entdeckerherzen höherschlagen lässt. Mitten drin liegt der Anscharcampus, in dem ich mein Büro habe. Einst als Marinelazarett errichtet, finden sich dort heute unter anderem Räume für Künstler und Coworker:innen. In anderen Teilbereichen des alten Krankenhauses sind Wohnungen entstanden. Das ehemalige Bettenhaus steht jedoch immer noch leer und sucht wie das benachbarte ehemalige Matrineuntersuchungsgefängnis jedoch immer noch nach einer neuen Nutzung. Ich hatte die seltene Gelegenheit, diesen spannenden Lostplace zu besuchen.

Glücklicherweise gehört das Gebäude derzeit zum Anscharcampus. So ist es mir an diesem Wintertag möglich, ganz legal in das Gebäude zu kommen. Es ist kalt, windig und es herrscht dichtes Schneetreiben, als ich mich auf den Weg zu Haus 3 mache. Meine Schritte knirschen im Schnee, und ich habe das Gefühl, in einer stillen, fast unwirklichen Welt unterwegs zu sein. Meine Hände zittern etwas, als ich das Vorhängeschloss am Bauzaun öffne und das Gebäude anschließend durch die Hintertür betrete. Die kalte Luft, die mir entgegenschlägt, mischt sich mit dem Geruch von Feuchtigkeit und altem Holz.

Bild einer verfallenen Wand. Daruf der Schriftzug Hallo Zukunft sowie herabhängende Poster
Wo die Zukunftswerkstatt ist längst Vergangenheit ist.

Mit einem Kribbeln im Bauch trete ich ein – ich darf diesen besonderen Ort legal erkunden. Der morbide Charme verfallener Gebäude hat etwas faszinierendes. Dieses hier ist ein ganz besonderes: Einst war es eins der modernsten Krankenhäuser des Landes. Seine Pavillonbebauung mit ihrer parkartigen Grünanlage gilt „als herausragendes Zeugnis des hohen gestalterischen Anspruchs der späten Kaiserzeit an Architektur und Freiraum“. Heute ist es ein verfallener Lostplace, der nach einer neuen Bestimmung sucht.

Bild einer verfallenen Wand. hat jemand mit einem schwarzen Stift ein Gedicht von Schiller geschrieben
Poesie des Verfalls.

Bröckelnde Geschichte: Die Schönheit des Verfalls im alten Treppenhaus

Kaum bin ich im Gebäude, stehe ich im Treppenhaus. Hier wabert die Geschichte durch jede Ritze. Es ist beeindruckend, wie groß und großzügig die Treppe einst gebaut wurde. Die Treppengeländer zeugen von viel Liebe zum Detail. Heute jedoch zeigen die Wände deutliche Spuren des Verfalls: Abblätternde Farbe, Putz, der sich von der Decke löst. Dazu sind überall Spuren von Feuchtigkeit zu sehen. Das Licht, das durch die staubigen und teilweise verrammelten Fenster fällt, verleiht dem Raum einen melancholischen Charakter. Die Szenerie erinnert mich ein wenig an das Gemälde Tanz der Staubkörnchen in den Sonnenstrahlen des dänischen Malers Vilhelm Hammershøi. Nur, dass hier alles noch trister ist. Ich bin alleine in dem Gebäude. Während ich mich langsam fortbewege, durchbricht das leise Knacken des Schutts unter meinen Füßen die Stille und unterstreicht die gespenstische Atmosphäre.

Aufnahme des verfallenen Treppenhauses von oben. An den Wänden sind Grafitti zu sehen. Der Putz ist teilweise abgeschlagen.
Vergangene Eleganz – Ein Treppenhaus, in dem die Zeit selbst die Schönheit nicht ganz auslöschen konnte.
Aufnahme des verfallenen Treppenhauses von der Mitte. An den Wänden sind Grafitti zu sehen. Der Putz ist teilweise abgeschlagen.
Der Verfall ist aber auch hier deutlich zu sehen.

Verlorene Streetart-Galerie: Moderne Kunst im alten Krankenhaus

Vorsichtig gehe ich weiter. Und stehe plötzlich in endlos langen Fluren. An den Seiten reihen sich die Türen der ehemaligen Patientenzimmer aneinander, einige stehen offen und geben den Blick auf karge, leere Räume frei. 2008 haben die letzten Patienten das Haus verlassen. Inzwischen ist längst alles ausgeräumt. Doch die Wände ziehen mich magisch an: Überall entdecke ich Spuren von Graffiti.

Aufnahme des verfallenen Flures im Erdgeschoss. Flure führen von ihm in die Krankenzimmer. An den Wänden sind Grafitti zu sehen. Der Putz ist teilweise abgeschlagen.
Stille Zeugen – Die Flure erzählen von einer Zeit, in der hier Leben pulsierte.
Aufnahme des verfallenen Flures im Erdgeschoss. Flure führen von ihm in die Krankenzimmer. An den Wänden stehen Betonplatten. Es sind Grafitti zu sehen. Der Putz ist teilweise abgeschlagen.
Aber auch vom unausweichlichen Verfall.

Hier haben Streetart Künstlerinnen und Künstler ihre Spuren hinterlassen, und obwohl vieles inzwischen verblasst oder abgebröckelt ist, erkenne ich noch einige bunte Motive. Wilde Schriftzüge, surrealistische Figuren und Porträts – sie erzählen von einer Zeit, in der Haus 3 eine inoffizielle Galerie war. Als Künstlerinnen und Künstler das vom Verfall bedrohte Gebäude als Leinwand für ihre Werke nutzten. Was noch zu sehen ist, zeugt davon, wie beeindruckend das mal ausgesehen haben muss.

Bild einer weitgehend vom Putz befreiten Wand. Daruf hängen zettel mit Ideen für die Zukunft des Bettenhauses. Auch sie verfallen
Quo vadis, Anscharcampus?

Inzwischen kämpft die Kunst selbst mit dem Verfall. Es ist ein vergeblicher Kampf, der in großen Teilen schon verloren ist. Damit das Gebäude überhaupt wieder saniert werden kann, haben Langzeitarbeitslose die Räume entkernt und den Putz großflächig abgeschlagen. So konnten seinerzeit Bauschäden ausgemacht und der ganze Komplex gesichert werden. Zumindest so lange, bis sich eine neue Bestimmung findet. Von den zahlreichen Kunstwerken sind seither nur noch wenige Reste zu sehen. Wahrscheinlich werden auch sie bald ein Opfer des Zahns der Zeit. Haus 3 ist ein verlorener Lost Place.

Vom Lernort zum Lost Place: Der Hörsaal der Mediziner

Ich gehe weiter und stehe bald darauf im ehemaligen Hörsaal, in dem einst medizinisches Wissen vermittelt wurde. Gerade dieser Raum hat Lost-Place-Fotografen lange in den Bann gezogen. Von der Einrichtung ist heute nicht mehr viel übrig. Die Bänke und Tische sind längst ausgebaut. Geblieben sind nur die schlichte Rampe, auf der die Sitzreihen einst befestigt waren, sowie die Empore, über die die Plätze betreten werden konnten. Die kargen Wände und der blanke Boden lassen kaum erahnen, welche Bedeutung dieser Ort einst hatte. Nur ein verblasstes und halb übermaltes Schild im Flur erinnert daran, dass hier früher Generationen von Medizinstudierenden unterrichtet wurden.

Hinweissschild zum Hörsaal. Es ist kaum noch zu erkennen, weil ein Grafitto über ihm prangt
Wie viele Studierende hier wohl nach Orientierung suchten?
Die Empore des ehemaligen Hörsaals. In der Mitte führen fünf Stufen zum ehemaligen Mittelgang des Hörsaals
Um dann, voller Hoffnungen und Zweifel, ihren Platz im Hörsaal zu finden.
Die Rampe des Hörsaals. Sie war einst die Unterkonstruktion für die Bänke.
Heute ist die Denkfabrik im Rückbau begriffen

Im Wechselspiel von Licht und Schatten: Eindrücke vom Dachboden

Mein Weg führt mich schließlich hinauf in den Dachboden. Schnell wird mir bewusst, dass ich viel zu selten auf bzw. in Dachstühlen bin. Dabei finde ich sie extrem interessant. Als Lagerraum, in dem man viele vergessene Dinge finden kann. Aber auch wegen ihrer Architektur: Die hölzerne Konstruktion ist auch hier oben ein wahres Meisterwerk. Ich sehe mächtige Balken, die sich wie ein Knochengerüst durch den endlos langen Raum ziehen und ihm etwas Sakrales verleihen. Ich bleibe stehen und lasse den Blick schweifen. Es ist beeindruckend, wie viel Handwerkskunst in diesem Dach steckt. Wie die Balken ineinandergreifen und das Dach seit über 100 Jahren tragen. Doch auch hier nagt der Zahn der Zeit. Der eisige Wind, der durch die Ritzen und treibt Schneeflocken durch die zerbrochenen Fensterscheiben. An einigen Stellen regnet es offenbar rein. Mir wird deutlich, wie gefährdet das Gebäude ist. Und wie weit der Verfall schon fortgeschritten ist.

Blick auf den Dachboden. Zu sehen ist die Holzkonstruktion der Balken. Darüber liegen die Dachziegel.
Hier ist Raum für neue Ideen.
Düstere Ecke des Dachbodens. In einem nahezu schwarzen Bild ist zentral ein verrammeltes Fenster zu sehen, das durch eine Ritze ausgeleuchtet wird
Die düstere Lichtstimmung verleiht dem Dachboden etwas sakrales.

Alles ist ruhig und ich bin alleine mit meinen Gedanken. Nehme mir einen Moment, um die Atmosphäre in mich aufzunehmen: Das fahle Licht bricht sich im Staub in der Luft. Schatten huschen über den Boden. Es scheint fast so, als könnte ich die Stimmen derer hören, die hier einst gearbeitet haben. Dieses Haus ist ein Zeuge vergangener Tage. Ein Gebäude, das deutliche Spuren seiner Geschichte als Krankenhaus und als inoffizielle Streetart-Galerie zeigt, aber gleichzeitig ein Spiegel der Vergänglichkeit ist. Was ja ganz gut zu einem ehemaligen Krankenhaus passt. Haus 3 ist ein Bauwerk, das aus dem Gestern kommt und nach einem Morgen sucht. Doch für mich ist es jetzt Zeit, wieder zu gehen und das Haus mit all seinen Geschichten und Geheimnissen hinter mir zu lassen.

Ein Ort zwischen Vergänglichkeit und Neubeginn

Als ich die Tür hinter mir verschließe, bin ich froh, dass ich für ein paar Stunden frei durch das Gebäude gehen durfte. Auch wenn nahezu alles ausgeräumt ist, fühle ich mich wie ein Entdecker. Es ist ziemlich beeindruckend, wie viele Spuren der Vergangenheit in den kargen Räumen überdauert haben und wie viel Geschichte hier ganz offensichtlich in den Wänden steckt. Schön, dass es offenbar konkrete Pläne gibt, Haus 3 eine neue Perspektive zu geben. Es soll restauriert und einer neuen Nutzung zugeführt werden.

Ein Gedanke, der den Abschied erleichtert. Haus 3 ist mehr als ein Lostplace. Es ist nach dem Abriss der anderen Bettenhäuser das letzte verbliebene seiner Art. Ein Zeitzeuge für eine ganz wunderbare und fortschrittliche Krankenhausarchitektur des frühen 20. Jahrhunderts, ein Ort, an dem Wissen vermittelt wurde und den nach Schließung Künstlerinnen und Künstler eroberten. Kurzum. Es ist ein Gebäude voller Geschichte und Geschichten, das unbedingt erhalten werden sollte. Irgendwann werden hoffentlich wieder Menschen das Gebäude mit Leben erfüllen. Aber an diesem verschneiten Tag habe ich es für mich alleine.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert