Agnes ist eine spröde Schönheit. Sie geizt mit ihren Reizen. Viele Jahre blieben sie mir verborgen, obwohl ich die kleine Wasserschöpfmühle am Großen Meer nahezu täglich vor Augen hatte. Vielleicht mussten wir beide etwas reifen. Vielleicht habe ich sie auch immer im falschen Licht betrachtet. Wie so oft zeigen altbekannte Motive zu den Tagesrandzeiten ihre schönste Seite. So auch Agnes.
Ich habe mich daher zu Vollmond mit Agnes verabredet. Lange habe ich auf den Tag hingefiebert. Immer kam etwas dazwischen. Bis es endlich klappte, zog viel Zeit ins Land.
Ein schicksalhafter Novembertag
Schließlich machte ich mich an einem extrem kalten und sehr vernebelten Novembermorgen auf den Weg zu ihr. Vor Ort zog sich die Suppe weiter zu. Die Sichtweite nahm immer weiter ab. Und Agnes, die sonst vom Parkplatz am Großen Meer immer gut zu sehen ist, versteckte sich hinter dicken Nebelschwaden. Diese waren so dicht, dass ich tatsächlich mein Handy herauszog, um mich zu orientieren und den Weg zu ihr zu finden, was alles andere als leicht war. Agnes ziert sich eben.
Schlussendlich stand ich dann vor ihr. Und wie auf einen Wink hin hob sich der Nebelschleier ein wenig und gab den Blick auf Agnes frei. Und das war ein unglaublich schöner Moment. Die Mühle, der Nebel, der Vollmond und der gefrorene Tau auf den Pflanzen zeichneten ein Bild, wie es Caspar David Friedrich nicht schöner hätte malen können.
Windmühlen sind ja immer schöne Fotomotive. Aber ich kenne nur wenige Windmühlen, die so idyllisch und frei stehen wie die kleine Entwässerungsmühle am Großen Meer. Ich bin dann bis Sonnenaufgang bei ihr geblieben. Eine Entscheidung, die ich nie bereut habe, denn die Gegendämmerung tauchte Vollmond und Agnes in ein absolut magisches Licht.
Der Sonnenaufgang ist ein wirklich toller Zeitpunkt, um Agnes und ihren kleinen Begleiter zu besuchen. Ich kann es nicht oft genug betonen: Auch mir fällt das frühe Aufstehen extrem schwer. Aber es lohnt sich eigentlich fast immer. Im Fall von Agnes ist es das ganze Jahr über lohnenswert, dort bei Sonnenaufgang vorbeizuschauen. Sie ist ziemlich vielseitig, auf zwei Seiten von Wasser umgeben, dahinter steht ein kleines Wäldchen und neben ihr wacht ein treuer Begleiter, dessen Namen ich leider vergessen habe.
Agnes und ich
Eigentlich ist Agnes viel zu alt für mich: Vor ewigen Zeiten hatte man sie zur Entwässerung der Bargsteder Meede errichtet und schon 1920 in den Ruhestand versetzt. Schließlich wurde sie abgebrochen und nahm woanders ihren Dienst auf. Als dann am großen Meer auf Initiative eines Reetdachdeckermeister ein Feuchtbiotop angelegt wurde, erinnerte man sich an die Mühle und brachte ihre Überreste der Mühle 1986 in die Nähe ihres ursprünglichen Standortes zurück. Seit 1988 dient sie, entgegen dem ursprünglichen Zweck, der Bewässerung des Feuchtbiotops. Ihren Namen erhielt sie von dem Dachdeckermeister, der sie spontan nach seiner Tochter benannte.
Ich bin ganz in der Nähe aufgewachsen und erinnere mich noch genau, wie Agnes an ihren alten Standort zurückkehrte. Ehrlich gesagt, hat mich das damals kaum umgehauen. Windmühlen sind in Ostfriesland nicht wirklich selten und Agnes sah für mich von weitem eher aus wie eine Gartenmühle, die zu touristischen Zwecken irgendwo in die Landschaft gestellt wurde. Oh, wie ich mich doch getäuscht habe. Agnes ist eine Schönheit und die umgebende Landschaft mit dem kleinen Biotop und den vielen anderen Gewässern ein wirklich lohnenswertes Ziel. Ich für meinen Teil verbringe jedenfalls gerne Zeit mit Agnes.
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