Lärmende Trompeten und groteske Masken – Die verstörenden „Giudei“ von San Fratello

Ostern ist auf Sizilien eine Zeit wilder Prozessionen und uralter Rituale. Selbst in den kleinsten Döfern ziehen Prozessionen durch die Straßen, die an die Via Crucis, den Leidensweg Christi, erinnern. Oft tragen die Teilnehmer dabei unheimliche Kostüme. Doch das Spektakel in San Fratello sprengt alle Vorstellungen: Verkleidete „Giudei“ mit Kuhschwänzen ziehen mit rasselnden Ketten und verstimmten Trompeten lärmend durch die Straßen und stören rituell die Karfreitagsprozession. Ein archaisches, verstörend faszinierendes Schauspiel, das bis heute Rätsel aufgibt. Doch was steckt wirklich hinter diesem jahrhundertealten Brauch? Ein Erlebnisbericht aus den Monti Nebrodi.

Ich habe mich schon immer für die schrägen Bräuche in den abgelegenen Bergdörfern Siziliens interessiert. Darüber werden in den Küstenorten die wildesten Geschichten erzählt. Aber was ich in San Fratello erlebte, sprengte bei mir jegliche Vorstellungen. Was soll man schon von einem Brauch halten, bei dem Männer mit Kuhschwänzen, verkleidet in Phantasieuniformen als Juden („Giudei“) mit Tröten und rasselnden Ketten ritualisiert die christliche Osterprozession stören.

Man hatte mir von diesem Spektakel in San Fratello erzählt. Hinter vorgehaltener Hand hieß es, der Brauch sei uralt und würde sowohl christliche als auch vorchristliche Elemente enthalten. Früher seien die „Giudei“ nahezu nackt durch die Straßen gelaufen, bekleidet lediglich mit einer Kordel. Später seien dann die Uniformen und Masken hinzugekommen. Derart verkleidet sollen manche Teilnehmer die Gelegenheit genutzt haben, Familienstreitigkeiten mit Gewalt zu lösen oder unliebsame Nebenbuhler aus dem Weg zu räumen. Heute sei es immer noch wild, aber immerhin friedlich. Ich beschließe, mir am Karfreitag gemeinsam mit meiner Frau selbst ein Bild zu machen. Der Weg in die Berge ist ähnlich beschwerlich wie nach Castania oder San Marco d’Alunzio. Nach einer endlosen Fahrt, die uns über eine extrem kurvenreiche Strecke immer tiefer in die Monti Nebrodi führt, erreichen wir San Fratello am frühen Nachmittag.

San Fratello ist ein Ort voller Besonderheiten. Eine der faszinierendsten ist die Sprache seiner Bewohner: Hier spricht man einen galloitalienischen Dialekt aus dem Norden Italiens – ein Erbe jener Lombarden, die sich im 11. Jahrhundert nach der Hochzeit des Normannen Rogers I. mit Adelasia in Sizilien niederließen. Ihre Sprache wird bis heute gesprochen und unterscheidet sich deutlich vom sizilianischen Dialekt.

Nachdem wir unser Auto am Stadtrand abgestellt haben, schlendern wir durch die Stadt. Die Straßen sind leer, bis auf ein paar ältere Frauen, die in schwarzen Umhängen vor ihren Häusern stehen und uns freundlich anschauen. Wir gehen weiter. Doch die Stadt wirkt wie ausgestorben.

Und hier soll eine wilde Prozession stattfinden? Wir beginnen, ernsthaft daran zu zweifeln. Plötzlich öffnet sich die Tür eines Hauses, von dem wir vorher vermuteten, dass es leersteht. Vor uns steht der erste leibhaftige „Giudei“. In dieser grauen Stadt ist er ein greller Farbtupfer. Er zieht alle Aufmerksamkeit auf sich und ist doch nicht zu erkennen.

Über seinem Kopf trägt er eine Kaputze mit einer fratzenhaften Maske. Darüber ragt ein Helm empor, der an römische Legionäre erinnert. Sein Gesicht bleibt verborgen hinter dem Stoff. Die Maske verzerrt die Gesichtszüge ins groteske. Die Augen sind schwarz umrandete Sehschlitze, die Nase als gelbes Dreieck hervorgehoben. Aus dem Mund hängt eine äußerst lange Lederzunge, auf der ein Kreuzsymbol prangt. Dazu trägt er eine mit Pailletten bestickte rote Uniform und aus Ochsenhaut gefertigte Stiefel, die bei jedem Schritt dumpfe Töne von sich geben. Außerdem hängt hinten aus der Uniform noch ein langer Kuhschwaz heraus, der die Erscheinung nur noch absurder macht. Der Mann hebt den Arm zum Gruße. An einem Handgelenk klirren schwere Ketten. Er nickt kurz und geht dann wieder zurück in das Haus. Plötzlich sind wir wieder alleine und versuchen, dass Gesehene zu verarbeiten.

Kurz darauf hören wir weit entfernt Trompetenklänge. Scheinbar sind wir im falschen Teil der Stadt angekommen. Wir folgen dem Lärm und stehen irgendwann an der Hauptstraße von San Fratello. Dort wimmelt es von „Giudei“, die sich im Vorbeigehen gegenseitig grüßen.

Mit einigen kommen wir ins Gespräch. Ganz genau wisse keiner, wie der Brauch entstanden sei, erklären sie uns. Ganz sicher war die Darstellung der Leidensgeschichte Jesu um Ostern herum einer der Ursprünge. Die Verkleideten, mit denen wir gesprochen haben, sehen sich in der Rolle des Soldaten, der den Speer in die Seite Jesu gerammt hat. Warum dieser dann später zum „Giudei“ wurde und diese groteske Verkleidung trägt, wussten sie nicht. Antisemitisch sei das Fest jedoch nicht. Schließlich würde es den „Giudei“ ja am Ende der Feierlichkeiten leidtun, dass sie Jesus getötet haben, geben sie uns noch mit auf den Weg. Wir haben daran erhebliche Zweifel, sehen aber auch, dass unsere Gesprächspartner von dem, was sie sagen, überzeugt sind. Auch sonst scheint das Spektakel kaum infrage gestellt zu werden. Es gehört sogar zum immateriellen Kulturerbe Siziliens.

Der Weg führt uns zur Hauptkirche in der gerade der Karfreitagsgottesdienst stattfindet. Auf dem Platz davor sammeln sich immer mehr „Giudei“. Wie auf ein unsichtbares Kommando blasen sie alle gemeinsam in ihre Trompeten, die alle so aussehen, als ob sie schon bessere Zeiten gesehen haben. Ein ohrenbetäubender Lärm erfüllt den Platz. Die Trompeten scheinen absichtlich schief und disharmonisch zu klingen. Auch das gehört zum Ritual, das darauf abzielt, die andächtige Stimmung des Gottesdienstes in der Kirche zu stören und Unruhe zu stiften. Für uns ist es schwer zu verstehen, was genau hier passiert.

An einer Ecke des Platzes entdecke ich eine riesige Jesusstatue, die während der Prozession durch die Stadt getragen wird. Wir gehen näher hin, um sie uns anzuschauen. Plötzlich schiebt sich eine Gruppe Giudei an uns vorbei. Nacheinander nehmen sie ihre Masken ab, knien vor der Jesusfigur nieder und küsst seine Füße. Danach begeben auch sie sich laut lärmend vor die Kirche.

Das Spektakel geht weiter, aber für uns ist es Zeit zu gehen. Wir haben viel gesehen, viel erlebt – und vieles davon müssen wir erst einmal verarbeiten. Doch eines ist sicher: Wir wollen unbedingt wiederkommen und mehr erfahren.

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