Man könnte meinen, eine fast vollständig erhaltene mittelalterliche Stadt mit 1.800 Einwohnern, 22 Kirchen aus verschiedenen Epochen, den Überresten eines griechischen Tempels und einer normannischen Festung, die in eine atemberaubende Berglandschaft eingebettet ist und zu den schönsten Orten Italiens zählt, wäre von Touristen überrannt. Doch weit gefehlt: Wer San Marco D’Alunzio besucht, hat den Ort nahezu für sich alleine. Nur wenige Touristen verirren sich in die abgelegene Bergwelt. Denn der Weg dort hinauf ist hart und ohne Auto kaum zu bewältigen.
San Marco D’Alunzio – noch so ein Ort, den ich bis dato nicht auf dem Schirm hatte. Auch hierher bin ich eher zufällig gekommen, weil uns Salvatore, ein befreundeter Italiener zu einem Tagesausflug überredet hat. Die Stadt thront wie eine Krone über den Monti Nebrodi und ist schon von weitem sichtbar. Der Weg hinauf ist anstrengend, kurvenreich und steil.



Schon vor der eigentlichen Stadt stoßen wir auf die Überreste eines Herkulestempels, der im 4. Jahrhundert vor Christi errichtet wurde. Dass er so gut erhalten ist, hat er dem Umstand zu verdanken, dass er später in eine dem heiligen Markus gewidmete Kirche umgewandelt wurde. Auch diese ist inzwischen vergangen. Die Zeit hat das Bauwerk eine unglaublich schöne Ruine verwandelt. Ich kann mir gut vorstellen, warum die Erbauer die Stelle ausgewählt haben: Der Tempel steht an einer kurvenreichen Straße und bietet einen spektakulären Panoramablick auf die Küste und die Liparischen Inseln.

Kaum haben wir die Stadtmauern passiert, stehen wir vor der schlichten Kirche der Madonna Annunziata. Auch sie wurde vermutlich auf den Überresten eines heidnischen Tempels errichtet, und im Laufe der Jahrhunderte mehrfach umgestaltet. Größter Schatz der Kirche ist eine prächtige Statue der Jungfrau Maria aus weißem Carrara-Marmor, die wohl im 15. Jahrhundert geschaffen wurde. Auf ihrem Sockel ist eine mittelalterliche Stadt dargestellt; die Hände und der Kopf der Statue bestehen aus Gips, da die Originale während eines Sarazenenüberfalls zerstört wurden.



Salvatore hat uns einen Führer organisiert, der uns weiter durch die Stadt lotst. Und uns überall Türen öffnet, die sonst verschlossen sind. Wir schlendern gemeinsam durch die malerischen Gassen von San Marco d’Alunzio. Rechts von mir erhebt sich die Kirche San Basilio aus dem 18. Jahrhundert. Ihre Fassade ist schlicht, doch das Innere der Kirche mit ihren kürzlich freigelegten byzantinische Fresken und den unzähligen Ikonen überwältigend.

Unser Führer bringt uns zur Kirche Ara Coeli. Der Überlieferung nach ließ sie ein zum Katholizismus konvertierter Jude im 12. Jahrhundert auf den Überresten eines heidnischen Tempels errichten, nachdem die Sarazenen aus der Stadt vertrieben worden waren. Die Kirche wurde fortan von der griechischen Gemeinde des Ortes genutzt, die für viele Jahre in San Marco D’Alunzio bestand. Auch hier kann man sich kaum sattsehen. Die Wände des Innenraums sind voll mit Stuckarbeiten, die Heilige in ehrfurchtsvoller Posen, Putten und Engel zeigen. In der Mitte der Kapelle hängt ein hölzernes Kruzifix aus dem 17. Jahrhundert, das trotz oder gerade wegen seiner Schlichtheit zu den Meisterwerken der spanischen Schule (ja: Die Geschichte Siziliens ist kompliziert) zählt.

Der Weg führt uns weiter zur Kirche San Salvatore. Wie könnten wir auch eine Kirche auslassen, die einem Namensvetter unseres Gastgebers geweiht ist. Einst war sie Teil eines Benediktinerinnenklosters, von dem heute nur noch Ruinen übrig sind. Auch San Salvatore wurde im 12. Jahrhundert auf den Überresten eines vermutlich dem Augustus geweihten römischen Tempels errichtet. Neben dem Gebäude erhebt sich der imposante Glockenturm, der 1571 erbaut wurde. Auch hier ist der Innenraum überwältigend.



Schließlich führt er uns auf den Monte Rotondo, dem höchsten Punkt der Stadt. Dort stehen wir plötzlich in den Ruinen des Castello di San Marco. Der Normanne Robert Guiskard (die Geschichte Siziliens ist wirklich kompliziert) ließ sie 1061 auf den Überresten einer noch älteren Burg errichten. Heute stehen nur noch wenige Mauern. Aber auch die sind ziemlich beeindruckend und künden noch heute von einer Zeit, in der San Marco d’Alunzio eine strategisch bedeutende Festung war.

Von der Burg genieße ich die traumhafte Aussicht. Unter mir blicke ich auf die Stadt, mit ihrem Gewirr aus engen Gassen, Kirchenkuppeln und roten Dächern. Am Horizont schimmern die Liparischen Inseln im Mittelmeer und hinter mir türmen sich die Monti Nebrodi auf.
Und doch bin ich etwas wehmütig gestimmt. Während ich an unseren Ausflug denke, fällt mir auf, dass nicht nur die Touristen fehlen. In den Gassen ist uns auch sonst fast niemand begegnet. Und wenn, dann waren es eher alte Menschen. Die Stadt und ihre Bauwerke sind in einem sehr guten Zustand, aber dennoch ist der Leerstand unübersehbar. Nach meinem Besuch in Castania frage ich mich, ob hier der nächste Lost Place entsteht. San Marco D’Alunzio hat eine wahnsinnig reiche Vergangenheit. Was nahezu komplett fehlt, ist eine perspektive für die Zukunft. Die Jugend kann leider nicht darauf hoffen, hier oben mit Touristen das Geld zu verdienen, weshalb es eine starke Abwanderung an die Küsten oder gar ins Ausland gibt. Was den Menschen dann noch bleibt, ist eine wahnsinnige Sehnsucht nach ihrer Heimat. Ich kann sie verstehen.

Was für ein traumhaft schöner Ort, was für eine großartige Insel. Vedi la Sicilia e poi muori. Einmal im Leben muss man Sizilien gesehen haben. Aber eigentlich hat Sizilien genügend für mindestens vier Leben zu bieten.