Taormina oder Tindari, das ist hier die Frage.

In zwanzig Jahren habe ich Sizilien einmal umrundet. Und es gibt hier so viel zu sehen, dass ich meine Reisen meist ziemlich genau plane. Bei meinem letzten Aufenthalt stand Taormina eigentlich ganz oben auf meiner Liste. Das römische Theater dort – ein Klassiker. Ein Postkartenmotiv. Eines, dass man sich nicht schöner ausdenken könnte: antike Säulen, der Ätna im Hintergrund und links davon folgt der Blick der Küstenlinie. Schon Goethe war begeistert. Nach ihm waren Richard Strauss, Thomas Mann und Oscar Wilde hier. Kurz gesagt: Taormina ist ein Spot, der schon lange auf meiner Liste steht. Aber manchmal lohnt es sich, einen anderen Weg einzuschlagen.

Ich bin ziemlich erschöpft in Italien angekommen. Höchste Zeit für Urlaub. Auf Menschenmassen habe ich absolut keine Lust. Also habe ich mich spontan anders entschieden. Statt ins Getümmel von Taormina bin ich nach Tindari gefahren. Taormina kann warten. Irgendwann schaffe ich das schon.

Tindari ist so ungefähr das Gegenteil von Taormina und eine eher unbekannte archäologische Stätte hoch über dem Meer, die in den Reiseführern gar nicht oder nur sehr kurz erwähnt wird. „Abseits der Touristenpfade“ klingt ja erstmal nach Abenteuer, nach Geheimtipp, nach unberührter Schönheit. Aber wenn ein Ort gar nicht in Reiseführern auftaucht, muss das nicht immer ein verstecktes Juwel sein. Manchmal bedeutet das auch: kaum erschlossen, schwer erreichbar oder einfach langweilig. Wer dennoch hinfährt, findet vielleicht Ruhe. Oder gelangt zu der Erkenntnis, dass nicht jeder weiße Fleck auf der Karte ein Geheimtipp sein muss.

In Tindari ist nicht viel los. Eine Katze genießt die Ruhe zwischen den antiken Ruinen.

Im Fall von Tindari habe es nicht bereut, auf mein Bauchgefühl zu hören: Das Gelände hatte ich fast für mich alleine. Kein Gedränge, keine Busladungen voller Touris und ein kostenloser Parkplatz direkt neben der antiken Stadt. Und das antike Theater dort? Muss ich meiner Meinung nach nicht hinter dem von Taormina verstecken. Es bietet einen traumhaften Blick direkt auf das Mittelmeer und die Liparischen Inseln. Außerdem gibt es eine recht gut erhaltene Basilika, diverse Mosaiken und die nicht schöne, aber traumhaft gelegene Wallfahrtskirche zu entdecken.

Ein Blick zurück: Tindaris bewegte Geschichte

Was haben ein griechischer Tyrann, römische Schauspieler und eine schwarze Madonna gemeinsam? Sie alle hinterließen Spuren in Tindari. Aber fangen wir doch von vorne an. Die Gegend ist schon seit der Bronzezeit besiedelt. An strategisch günstiger Stelle ließ Dionysios I. von Syrakus im Jahr 396 v. Chr. einen militärischen Vorposten gegen die Karthager errichten, die seinerzeit nahezu ganz Sizilien beherrschten und den Rest erobern wollten. Dafür siedelte er Söldner und Flüchtlinge aus Messina auf dem Felsplateau an. Zu Ehren des mythischen Königs Tyndareos gab Dionysios der Stadt den Namen Tyndaris.

Ihre Geschichte blieb kriegerisch: Im Ersten Punischen Krieg schlug sich Tyndaris zunächst auf die Seite der Karthager, wechselte aber später die Seiten und unterstützte die Römer. Während des Bürgerkriegs zwischen Pompeius und Oktavian wurde die Stadt zur Bastion des Pompeius. 36 v. Chr. unterlag sie jedoch dem römischen General Marcus Vipsanius Agrippa, dem Schwiegersohn Oktavians. Danach stieg Tyndaris zur römischen Kolonie „Colonia Augusta Tyndaritanorum“ auf.

Gegen Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr. riss nach Angaben von Plinius dem Älteren ein gewaltiger Erdrutsch Teile der Stadt ins Meer. Von dieser Zerstörung hat sich der Ort offenbar schnell erholt, denn die folgenden Jahrhunderte gelten als Blütezeit der Stadt.

Nach dem Untergang des Römischen Reichs wurde Tyndaris unter den Byzantinern zum Bischofssitz, doch 836 zerstörten die Araber die Stadt vollständig. Danach wurde es still auf dem Felsen. Was blieb, sind Ruinen, wie sie malerischer kaum sein können. Und eine Wallfahrtskirche, die nicht so schön ist. Aber dazu später mehr.

Die Ruinenstadt

Bisher ist nur in kleiner Teil der antiken Stätte ausgegraben worden. Das lässt viel Raum für Fantasie. Es lässt sich allenfalls erahnen, wie prachtvoll die Siedlung einst war.

Das Teatro Greco: Bühne mit Meerblick

Theater mit Meerblick auf die ikonischen liparischen Inseln.

Schon kurz nachdem wir das Kassenhäuschen hinter uns gelassen haben, stoßen wir auf das Teatro Greco. Was für ein Anblick, was für ein Ausblick: Eine Bühne mit Meerblick, die im 4. oder 3. Jahrhundert v. Chr. als klassisches Theater von den Griechen geschickt in den Hang gebaut wurde. Die Römer haben es später zum Amphitheater genutzt. Ich steige die Stufen empor, setze mich auf eine der 30 noch erhaltenen Sitzreihen und lasse den Blick schweifen. 3000 Menschen fanden hier einst Platz.

Heute bin ich fast allein, schließe die Augen, lehne mich zurück auf den kühlen Stein. Plötzlich füllt sich das Teatro Greco mit Leben. Die Sitzreihen sind bis auf den letzten Platz besetzt. Ein Raunen geht durch die Menge, als sich die Sonne langsam senkt und die Bühne in warmes Licht taucht. Unten treten Schauspieler in prächtigen Gewändern auf, ihre Stimmen hallen kraftvoll durch die steinerne Arena. Dann öffne ich die Augen, und die Jahrhunderte fallen wieder in sich zusammen. Alles ist Schall und Rauch und trotzdem unsagbar schön. Vor mir breitet sich das Mittelmeer aus, dahinter schimmern die Liparischen Inseln im Dunst. Ein perfekter Ort, um die Zeit stillstehen zu lassen. Doch ich muss weiter, denn das Theater ist ja nur der Auftakt.

Die Stadtmauer war einst drei Kilometer lang.

Die Stadt muss einst mächtig gewesen sein. Schon zur Zeit von Dionysios I. war Tyndaris von einer drei Kilometer langen Stadtmauer mit gewaltigen Türmen umgeben. Selbst ihre Reste sind beeindruckend. Das Straßennetz lässt deutlich erkennen, dass der Ort von den Griechen nach dem Hippodamisches Schema errichtet wurde: Drei parallel verlaufende Hauptstraßen in Ost-West-Richtung werden von Querstraßen gekreuzt. Auch an die Entsorgung von Unrat haben die Stadtgründer gedacht. Unter der Straße installierten sie ein ausgeklügeltes Kanalisationssystem.

Das Wohnviertel der Stadt

Mein Weg führt mich zu den im 1. Jahrhundert v. Chr. errichteten Termen. In einem der Bäder fand man ein besonderes Mosaik: die Darstellung einer Trinakria – das sizilianische Symbol mit drei Beinen und Medusenhaupt. Daneben stehen die Reste eines Wohnblocks, der von rechtwinklig verlaufenden Straßen umgeben ist. Solche Insulae waren in römischen Städten der Standard: kompakte Wohn- und Geschäftshäuser, oft mehrstöckig und dicht an dicht gebaut. Zwischen ihren Ruinen stoße ich auf Spuren des täglichen Lebens: Überreste von Mosaikböden, die einst den Innenhöfen Glanz verliehen, und Fundamentreste von Geschäften, die den Straßenrand säumten.

Nebenan thront die Basilika, die niemals Kirche war. Mit dem Begriff „Basilika“ verbindet man meist christliche Gotteshäuser, doch war der Begriff ursprünglich der Name großer, für Gerichtssitzungen und Handelsgeschäfte (z. B. als Markthalle) bestimmter Prachtgebäude. Sie ist beeindruckend gut erhalten. Nachdem ich sie durchschritten habe, lande ich plötzlich in einer ganz anderen Welt: dem modernen Tindari. Aber was heißt schon modern? Der Ort besteht im Wesentlichen aus einer großen Kirche und ein paar Läden, die sich um den Vorplatz gruppieren.

Der Wallfahrtsort auf dem Felsen

Tindari ist heute vor allem wegen seiner Wallfahrtskirche bekannt: der Santuario della Madonna Nera. Schon von weitem sieht man die wuchtige Silhouette des Gotteshauses, das eher an einen Betonklotz erinnert als an eine traditionsreiche Basilika. Doch die Lage ist unvergleichlich: Hoch oben auf dem Felsen thront die Kirche, umgeben von einer Handvoll Geschäften und Cafés, die hauptsächlich Pilger versorgen.

Die schwarze Madonna von Tindari

Die Massen werden von der schwarzen Madonna im Inneren der Kirche angelockt. Der Legende nach wurde sie im frühen Mittelalter von Mönchen aus dem Orient hierher gebracht. Die Figur aus dunklem Holz, reich verziert und geheimnisvoll lächelnd, soll wundertätig sein.

Im Gegensatz zur antiken Stätte herrscht hier oft reger Betrieb. Pilgergruppen strömen aus Bussen, kaufen Kerzen und Andenken, bevor sie die Madonna in der kühlen, schattigen Kirche verehren. Zwischen Souvenirshops und Imbissständen weht ein Hauch von Volksfeststimmung. Als ich hinkomme, ist sie geschlossen. Macht nichts. Der Blick vom Kirchenplateau hinunter auf die Lagune von Tindari, die wie ein Sandhaken ins Meer ragt, ist atemberaubend.

Auf dem Rückweg will ich mir eigentlich noch die nahegelegene Villa Romana di Patti anschauen. Hier liegen die Ruinen eines luxuriösen Landanwesens aus der Römerzeit, die es in Größe und Ausstattung wohl mit der Villa Romana del Casale aufnehmen kann. Das heißt könnte. Sie ist seit langem geschlossen und wird von einer Frau im Kassenhäuschen bewacht. Sie kann uns nicht sagen, seit wann die Stätte geschlossen ist und auch nicht, wann sie wieder öffnet. „Bald“, sagt sie mit einem Lächeln. Macht aber gar nichts. Für heute reicht es.

Tindari – Ein Geheimtipp für Entdecker

Vollgepackt mit tausend Eindrücken endet mein Besuch. Ich muss sagen: Tindari hat mich überrascht. Die antike Stadt oben auf dem Felsen ist ein echter Schatz für alle, die gerne auf eigene Faust erkunden. Kein Gedränge, kein Lärm – nur Stille, Geschichte und der Blick über das Meer bis zu den Liparischen Inseln. Hier kann man sich Zeit nehmen, durch die Ruinen zu streifen, Mosaike zu entdecken und sich auf den alten Steinstufen des Theaters einfach treiben zu lassen.

Die moderne Kirche? Kann man mitnehmen, wenn man ohnehin da ist. Ein paar Geschäfte, ein bisschen Kitsch und die schwarze Madonna – für Gläubige vielleicht ein Highlight, für mich eher eine kurze Zwischenstation auf dem Weg zurück zum Auto.

Wenn ich mich entscheiden müsste, ob ich nach Taormina oder Tindari fahre, würde ich mich immer für Tindari entscheiden. Hier kannst du alleine durch Vergangenheit und Gegenwart wandeln, hast Zeit, alles zu erkunden und musst nicht warten, bis die Massen durch sind. Ein Ort für Entdecker, die gerne genauer hinschauen. Aber Taormina schaue ich mir gewiss auch noch an.

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