Es gibt Orte, die entdeckt man zufällig, weil sie zum Beispiel auf halber Strecke auf dem Weg zu einem Zielort liegen, weil das Navi einen Umweg schickt oder weil man irgendwo falsch abgebogen ist. Und dann gibt es Gegenden wie Butjadingen. Hierhin verirrt man sich nicht einfach so. Die Region liegt fernab aller großen Verkehrsströme, von drei Seiten umspült von Wasser: Jadebusen, Weser, Nordsee. Wer hierher kommt, der hat ein Ziel. So wie ich.
Schon lange steht Eckwarderhörne auf meiner Liste schöner Fotomotive ganz weit oben. Dort ragen die Reste eines alten Anlegers wie ein maritimer Lostplace aus dem Watt. Der Zahn der Zeit nagt seit langem an ihnen. Die Lage im Meer beschleunigt den malerischen Verfall durch Erosion, Überwucherung oder Wetter. Aber dazu später mehr.

Es ist eine Crux: Die Liste der Motive, die ich gerne einmal fotografieren möchte, ist ewig lang und wird immer länger. Ich war schon an vielen Orten, habe aber längst nicht alle abgehakt. Und es kommen ständig neue Ziele hinzu.
Einer der ältesten Einträge auf meiner Karte ist Eckwarderhörne. Aber irgendwie habe ich es bisher nie geschafft, den Spot mal anzusteuern. Nun ergab sich die Gelegenheit, ihn mal aufzusuchen, weil ich alleine auf dem Weg nach Ostfriesland war und einfach einen etwas größeren Schlenker eingelegt habe. Denn Eckwarderhörne liegt nicht auf dem Weg. Es ist das Ziel.
Kaum habe ich Bremen hinter mir gelassen und den Wesertunnel durchquert, bin ich in Butjadingen. Hier ist wirkllich nichts, außer Marschland. Nichts als Marsch. Die Landschaft ist beruhigend einfach, geradezu schlicht. Es gibt kaum Erhebungen, keine Wälder, einfach nichts, was sich zwischen mich und den Horizont stellt. Hier ist Weite, soweit das Auge reicht. Der Horizont selbst wirkt wie ein unendlicher Strich ohne Anfang und ohne Ende. Das ist für mich als altes Küstenkind immer wieder unendlich beruhigend. Hier lasse ich mir gerne Zeit und komme zur Ruhe.

Auf dem Weg nach Eckwarderhörne lege ich einen Zwischenstopp am Bronzezeithaus Hartwarderwurp ein. Es ist beeindruckend und zeigt, dass Butjadingen uraltes Siedlungsland ist. Das rekonstruierte Bauernhaus aus der späten Bronzezeit bietet einen faszinierenden Einblick in das Leben vor etwa 3000 Jahren. Es ist fast so, als ob die Bewohner nur kurz weg sind, so lebensnah ist hier alles rekonstruiert worden. Die Siedlung, in der das Haus einst stand, wurde zu ebener Erde errichtet. Ein Hinweis darauf, dass damals eine längere Zeit ohne große Stürme oder Überflutungen gegeben haben muss. Denn trotz der Nähe zu Weser, Nordsee oder Jadebusen errichteten die Erbauer es nicht auf einer Warft, sondern in unmittelbarer Flussnähe am Fuß der Rückseite des Uferwalls der Weser oder eines ihrer Nebenarme. An den Uferwall grenzte das Sietland, das durch Moore gekennzeichnet ist und erst seit dem Mittelalter entwässert und kultiviert wurde.

Das Bronzezeithaus selbst ist ein dreischiffiges Wohnstallhaus, dessen Bauweise mit zwei Reihen starker Innenpfosten und einem mittleren Gang beeindruckt. Im Zentrum des Wohnbereichs befindet sich eine ebenerdige Herdstelle, und der Wohnbereich war durch eine Sodenpackung etwas erhöht, um einen besseren Schutz vor dem feuchten Boden der Umgebung zu bieten.

Doch genug der Details. Das hier ist schließlich ein Fotoblog ;-). Das Bronzezeithaus zahlreiche Motive: die Struktur des Reetdachs, die Textur der Lehmwände und die umgebende Marschlandschaft. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, findet in der monotonen Landschaft unzählige Motive.
Apropos Landschaft. Mich zieht es weiter in den Langwarder Groden. Er liegt im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer zwischen Fedderwardersiel und Langwarden und ist ein recht junges Naturschutzgebiet. Als Ausgleichsmaßnahme für den JadeWeserPort wurde der Deich dort im August 2014 auf 900 Meter Länge geöffnet. Seither sind 140 Hektar wieder den Gezeiten ausgesetzt. Ganz ungewöhnlich für die Nordsee ist die Grenze zwischen Meer und Land hier seither nicht mehr scharf, sondern im wahrsten Sinne des Wortes fließend. Ebbe und Flut prägen das Gebiet und die Wattflächen werden im Rhythmus der Tide überflutet. Die Salzwiesen wachsen ins Wasser hinein und werden doch regelmäßig überspült. So monoton die Landschaft auch wirken mag: Sie ist ständig im Wandel und weder ganz Land noch ganz Meer.

Das Wetter ist, nun ja, bescheiden. Wochenlang hat es nicht geregnet – und ausgerechnet jetzt, wo ich unterwegs bin, zieht sich der Himmel zu. Schauer fegen übers Land, ein kräftiger Wind bläst mir ins Gesicht. Er ist ungewöhnlcih kalt und eisige Böen dringen durch jede Ritze meiner Jacke. Für Spaziergänger mag das unangenehm sein. Ein Grund, doch lieber zu Hause zu bleiben.

Für Fotografen aber macht das Wetter oft den entscheidenden Unterschied. Meine schönsten Aufnahmen habe ich bei vermeintlich schlechtem Wetter gemacht. Wenn Wind, Regen und Licht zusammentreffen, entstehen für mich oft die eindrucksvollsten Stimmungen. Irgendwie muss das Wetter meiner Meinung nach auch zur Landschaft passen. Butjadingen ist keine Postkartenidylle. Hier gibt es echte und raue Küstenstimmung. So bin ich aufgewachsen und deshalb zieht es mich auch immer wieder an die Nordsee. Gerade, wenn sich der Himmel zuzieht.

Allerdings muss man dann besonders schnell sein. Das Licht wechselt im Minutentakt. Wolken jagen über den Himmel. Manchmal reißt der Wind eine Lücke in die graue Decke. Wenn dann ein Sonnenstrahl auf die Salzwiesen trifft, wird es schnell unglaublich schön. Aber es ist eine vergänglich Schönheit. Nur zu oft ist der Moment schon wieder vorbei, ehe ich die Kamera ausgerichtet habe. Dieses Spiel aus Licht und Schatten macht die Fotografie hier draußen zu einem Erlebnis. Man muss wach sein. Bereit. Und manchmal einfach Glück haben. Für heute bin ich mit meiner Ausbeute zufrieden.
Schließlich mache ich mich auf den Weg zu meinem eigentlichen Ziel, dem alten Anleger von Eckwarderhörde. Ein beliebter Fotospot, der nicht nur wegen seiner eigenwilligen Lostplace-Ästhetik inmitten des Watts verlockend ist, sondern auch wegen seiner Geschichte.
1909 eröffnet, galt er einst als der modernste Anleger an der gesamten Nordseeküste. Zu Zeiten seiner Erbauung war er 130 Meter lang und ruhte auf massiven Betonpfeilern. Heute ist hier nichts, doch einst muss hier reger Betrieb geherrscht haben, denn damals war der Anleger Endsation einer Bahnlinie, über die das Schlachtvieh für die aufstrebende Marinestadt Wilhelmshaven angeliefert und schließlich verschifft wurde. Die Gleise führten bis an das Ende des Anlegers, so dass die Züge bis direkt an die Schiffe heranfahren konnten. Auch Passagiere traten von hier ihre Reise nach Wilhelmshaven an. Oder kamen von dort, um nach Bremerhaven zu fahren. Wer mochte, konnte in eine kleine Strandhalle einkehren, die damals unmittelbar am Anleger auf dem Deich stand.
Heute ist davon wenig übrig geblieben. Die Strandhalle ist komplett verschwunden, der Anleger selbst durch einen neuen ersetzt. Der Winter 1956, durch Eisgang weitgehend zerstört wurde, versetzte ihm schließlich den Todesstoß. Seither erinnern nur noch die vier Stützen im Watt an die große Zeit der Dampfschiffahrt von Eckwarderhörne. Aber die sind wahnsinnig ästhetisch.

Fotografisch sind die Bedingungen auch hier für mich extrem herausfordernd. Ich habe eine Langzeitbelichtung geplant, doch daran, ein Stativ aufzustellen, ist nicht zu denken, denn der Seegang ist ziemlich hoch. Schließlich lege ich die Kamera auf die schmalen Steinbuhnen. Und nehme sie fast schon reflexartig immer dann hoch, wenn wieder eine größere Welle anrollt. Langzeitbelichtung sind normalerweise sehr entspannend. Man muss ja nicht viel tun, außer auf das Ende der Aufnahme zu warten. Hier dagegen ist es Fotografie unter Extrembedingungen und bei dem unfreiwilligen Tanz mit den Elementen entstehen ein paar ungeplante Aufnahmen im Stile des intentional camera movements (ICM).

Gerne würde ich mit der Kamera noch weiter runtergegangen und das Motiv gerne 40, 50 Zentimeter tiefer ablichten, so dass die Tore deutlicher hintereinander stehen und eines quasi im anderen steht. Aber der Wellengang lässt das nicht zu. Mir wird klar, dass heute ist nicht der Tag für perfekte Bilder ist. Aber so ist Fotografie. Es hat viele Gemeinsamkeiten mit dem Angeln. Man kann viel vorbereiten und weiß doch nie, was man einfängt. Gelohnt hat es sich trotzdem.
Ich war da. Endlich. Und ich komme wieder.