Der Wanderer im Nebelmeer

Es ist Januar. Die Tage sind kurz. Der Himmel zeigt sich allzu oft grau. Und selbst die Landschaft erscheint merkwürdig farblos.

Schnee? Kommt schon mal vor, ist für mich hier oben im Norden aber mehr eine vage Kindheitserinnerung als ein verlässlich wiederkehrendes Winterphänomen. Statt dicker Schneedecken haben wir von Oktober bis März meist trübes…, ja was eigentlich? Nennen wir es Wetter.

Sogar der Himmel hat in dieser Zeit eine ganz eigene Art, sich über uns zu legen – so tief, so dicht, dass es immer wieder scheint, als könnte man ihn mit ausgestreckten Händen berühren. Manchmal hat man sogar das Gefühl, dass der Winter mit Absicht eine nebelförmige Gestalt angenommen hat.

Denn gerade in dieser Jahreszeit ist der Nebel kein stilles Phänomen, das über den Feldern schwebt – er ist vielmehr ein ungeduldiger Wanderer, der sich überall seinen Weg bahnt. Einer, der in jede noch so kleine Ritze in der Jacke, unter der Mütze oder an der Hose kriecht, und sich mit seinen eiskalten Händen unaufhaltsam bis an die verstecktesten Winkel des Körpers herantastet. Doch damit nicht genug. Es fühlt sich an, als würde der Nebel mit seinen kalten Fingern nicht nur über die Haut streichen, sondern nach den Knochen greifen.

Das ist unangenehm und es läuft mir bereits beim Schreiben kalt den Rücken herunter. Es braucht einiges an Überwindung, sich bei solchem Wetter hinauszuwagen. Zu verlockend ist die warme Wohnung mit ihrer gemütlichen Couch.

Ein schmaler Wanderweg, der von kahlen, ineinander verwobenen Ästen zu einem natürlichen Tunnel geformt wird. Die Atmosphäre ist neblig, und am Ende des Pfades scheint ein heller Lichtschein durch die dichten Äste. Der Boden ist mit Erde und feuchtem Laub bedeckt, und die umliegende Vegetation ist winterlich karg.
Out of the Dark (Into the Light). Manchmal erscheint alles trüb. Und doch ist da Licht am Horizont. Mettenhof 2025

Und doch treibt es mich nach kalten Nebelnächten immer wieder nach draußen. Widerstand ist zwecklos. Man kann dem Nebel eh nicht entkommen. Selbst Norddeutschlands höchste Erhebung, der Brocken im Harz, ist pro Jahr mehr als 300 Tage in dichten Nebel gehüllt.

Alles andere als selten: Eisnebel auf dem Brocken.

Kein Grund, Trübsal zu blasen. Außerdem habe ich als Ostfriese von Kindesbeinen an gelernt: Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur falsche Kleidung. Polarsocken, Wanderstiefel und Parka sind meine Verbündeten.

Derart ausgerüstet trete ich trotz vermeintlich widriger Bedingungen immer wieder vor die Tür. Und lasse ich den Nebel gewähren. Atme ihn ein, lasse ihn durch mich hindurchziehen, bis ich irgendwann das Gefühl habe, ein Teil von ihm zu werden.

Schnell wird es dann einsam um mich. Der Dunst hat eine eigentümliche Art, die Welt zu verschlucken. Geräusche werden gedämpft, Konturen lösen sich auf, und die gewohnten Linien der Landschaft verschwinden in einem formlosen Weiß sowie unzähligen Abstufungen von Grau.

Die kreative Kraft der Melancholie

Manchmal fühlt es sich selbst in dicht besiedelten Gegenden an, als wäre man völlig allein auf der Welt. Der Nebel verschluckt alles, was sonst an die Nähe der Zivilisation erinnert – Straßenlaternen, Häuser, selbst die Silhouette eines vorbeifahrenden Autos rauscht nur schemenhaft vorbei. Alles, was nicht unmittelbar vor einem liegt, wird von der trüben Suppe verhüllt.

Man könnte glauben, das macht Angst oder wäre unangenehm. Doch weit gefehlt. Zwar breitet sich auch in mir die Melancholie aus. Die ist in diesen Momenten aber gar nicht trübsinnig, sondern hat etwas Reinigendes, Explosives und unglaublich Kreatives. Sie ist ein Weg zu mir selbst. Und zu einer unglaublichen Ruhe. Außen wie innen. Mit jedem Schritt in der einsamen Kälte spüre ich, wie mein Geist freier wird, wie vermeintlich wichtige Dinge, die mich sonst schwer beschäftigen, von mir abfallen.

Der Hafen von Wismar in Schwarz-Weiß. Im Vordergrund führt ein gepflasterter Weg mit wenigen Passanten. Im Hintergrund sind die schemenhaften Konturen eines Segelschiffs, eines historischen Gebäudes und eines Silos zu erkennen, die im dichten Nebel fast verschwinden. Die Szenerie wirkt still und geheimnisvoll.
Wee Zeit und Raum fast bedeutungslos scheinen: Der Wismarer Hafen im Nebel.

Das inspiriert mich. Immer wieder. Wohl nicht umsonst ist der Wanderer über dem Nebelmeer eines der bekanntesten Bilder von Caspar David Friedrich. Wenn ich so auf den Feldern stehe und in den Nebel schaue, fühle ich mich wie der Mann auf dem Gemälde. Einsam, entrückt und dennoch ganz im Hier und Jetzt verankert. Nur, dass ich meist nicht über dem Nebelmeer schwebe, sondern ein Teil von ihm bin und durch ihn hindurchschreite.

Diese merkwürdige Stimmung macht etwas mit mir. Sie lässt mich schreiben oder bringt mich dazu, in klirrender Kälte mit der Kamera loszuziehen.

Denn der Nebel bringt Ordnung ins Chaos. Er bringt mich dazu, alles Überflüssige und scheinbar Wichtige hinter mir zu lassen und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Alles ist auf wenige klare Linien und Formen reduziert, die im diffusen Weiß und Grau sichtbar bleiben. Inmitten des alltäglichen Chaos, in dem wir alle viel zu vielen Reizen ausgesetzt sind, ist es unglaublich befreiend, nur noch das zu sehen, was wirklich zählt – ein einzelner Baum, ein stiller Pfad, ein schemenhaftes Licht in der Ferne. Und dazwischen ganz viel Nichts.

Frostige Schönheit: Wenn der Raureif die Landschaft in ein eisiges Kunstwerk verwandelt

Besonders schön wird es, wenn die Temperatur in der Nacht weit unter den Gefrierpunkt sinkt. Dann geschieht etwas Wundersames, das mich schon als Kind immer wieder erstaunen ließ: Der Nebel gefriert.

Morgens, wenn die ersten Sonnenstrahlen über die Landschaft ziehen, ist dann alles mit Raureif überzogen. Ein filigranes Netz aus Eiskristallen umhüllt die Welt und verwandelt selbst die unscheinbarsten Grashalme in kleine Kunstwerke. So entstehen Bilder, die an Infrarotaufnahme erinnern – für mich jedoch viel natürlicher und lebendiger.

Eine winterliche Landschaft mit einer Reihe von Bäumen, die mit frostigen, schneeweißen Ästen bedeckt sind. Der klare blaue Himmel bildet einen kontrastreichen Hintergrund, während der Boden mit einer dünnen Frostschicht bedeckt ist. Die Szenerie strahlt eine ruhige und friedliche Atmosphäre aus.
Winterliche Poesie: Manchmal ist es gefühlt monatelang trüb. Wenn man dann an einem Morgen mit solch einem Ausblick verwöhnt wird, ist all das vergessen.

Manchmal ist sogar der Nebel plötzlich verschwunden. Wo monatelang eine undurchdringliche, graue Wand war, kann man dann weit blicken. Die Sonnenstrahlen brechen durch den Dunst und der Himmel ist kurz nach Sonnenaufgang in sanfte Pastellfarben getaucht, ehe ein kaltes, aber klares Blau übernimmt.

Eine idyllische Szenerie mit der historischen Windmühle Agnes  am Ufer eines ruhigen Flusses, umgeben von frostbedecktem Gras und Schilf. Der Himmel ist neblig-blau, der tiefstehende Mond scheint diffus durch den Dunst und beleuchtet die Szenerie spärlich. Die Windmühle und ein kleines, strohgedecktes Häuschen spiegeln sich im stillen Wasser wider, was der Szene eine verträumte Atmosphäre verleiht
Manchmal reicht schon der Vollmond, um die vernebelte Winterlandschaft in ein magisches Licht zu tauchen.

Alles ist durch den Frost erstarrt. Es ist, als würde die Natur noch einmal innehalten, bevor der Tag beginnt. Ich genieße das immer wieder. Laufe mit meiner Kamera durch Wälder und Felder und kann mich kaum sattsehen.

Hier lockt ein gefrorener Ast, dort ein einsamer Zaunpfahl, an dem die Eiskristalle wie winzige Diamanten glitzern und dahinten steht die Baumreihe in bizarres Eis gehüllt. Oft ist die schöne Pracht schon nach kurzer Zeit wieder verschwunden, wenn die Sonne ihre Kraft entfaltet. Aber es sind diese Momente, die mich in den dunklen Monaten immer wieder erfreuen. Die mir klarmachen, dass es trotz allem unglaublich viel Schönes auf dieser Welt gibt und die jeden trüben Gedanken vertreiben.

 
Ein moosbedeckter Baumstamm liegt auf der gefrorenen Oberfläche eines Sees. Das Holz ist verwittert und zeigt markante Formen, die von der Natur geformt wurden. Die eisige Oberfläche des Sees reflektiert das Licht und weist feine Risse und Unebenheiten auf, was der Szene eine raue, winterliche Stimmung verleiht
Gefangen im frostigen Griff des Winters: Alles scheint starr und unbeweglich, und doch schlummert überall Leben.“

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