Es gibt Orte wie aus dem Bilderbuch und andere, die einen geradewegs in den Abgrund menschlicher Grausamkeit blicken lassen. Bei meinem Besuch in Fürstenberg an der Havel habe ich beides gesehen. Vom idyllischen Himmelpfort mit seinem bekannten Kloster und dem noch bekannteren Weihnachtspostamt bis zum riesigen Lagerkomplex von Ravensbrück, dem Siemenslager und dem KZ Uckermark. Allesamt Orte, die wie ein „Tor zur Hölle“ wirken, wenn man ihre Geschichte kennt. Manchmal liegen Schönheit und Grauen erschreckend nah beieinander.
Kloster Himmelpfort: Ein Ort der Ruhe
In Himmelpfort bin ich vor zwei Jahren schon einmal gewesen. Ich kenne kaum einen ruhigeren Ort. Stressig wird es hier nur zur Weihnachtszeit, wenn Kinder aus aller Welt ihre Briefe an den Weihnachtsmann schicken, der hier seinen Zweitwohnsitz hat. Wirklich beeindruckend, dass er alle Briefe beantwortet. Kein Wunder, dass der Mann länger Urlaub macht. Im Sommer weilt er meist am Nordpol, weshalb man seine Wohnung in Himmelpfort besichtigen kann, ohne den armen Mann zu stören.
Gleich nebenan stehen die Überreste des namensgebenden Klosters. Der askanische Markgraf Albrecht III. gründete es 1299. Möglicherweise hoffte er, dass die Zisterzienser das seinerzeit dicht bewaldeteund dünn besiedelte Gebiet für ihn erschlossen. Doch daraus wurde nichts. Kriege, Raubüberfälle und wechselnde Landeszugehörigkeiten führten dazu, dass das Kloster trotz seiner umfangreichen Erstausstattung nie die Bedeutung der Klöster Lehnin oder Zinna erlangte. Nach der Reformation wurde es aufgelöst und verfiel zunehmend. Erhalten blieben die Ruine der Klosterkirche, ein Brauhaus genanntes Wirtschaftsgebäude und ein Teil der Klostermauer.
Selbst in ihrem heutigen Zustand strahlt die Klosterruine eine friedliche Ruhe aus. Ich fühle mich hier weit entfernt von allem Schlechten. Zumindest für einen kurzen Moment.



Der Lagerkomplex von Ravensbrück – Eine Hölle auf Erden
Denn nur wenige Kilometer weiter zeigt sich eine ganz andere Wirklichkeit. In Fürstenberg an der Havel liegt das ehemalige Konzentrationslager Ravensbrück – das größte Frauen-KZ auf deutschem Boden. Direkt daneben: das sogenannte Siemenslager, in dem Frauen zur Zwangsarbeit für den Konzern gezwungen wurden, und das KZ Uckermark, ein sogenanntes „Jugendschutzlager“ für Mädchen. Ein riesiger Lagerkomplex, erschreckend effizient organisiert. Eine Fabrik zur systematischen Vernichtung menschlichen Lebens. Immer wieder bleibe ich fassungslos stehen und bin angewidert, mit welcher Kälte, Bürokratie und Perfektion die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie funktionierte.

Insgesamt waren in Ravensbrück etwa 120.000 Frauen und Kinder, rund 20.000 Männer sowie etwa 1.200 Mädchen und junge Frauen aus über 30 Nationen interniert. Alles war erschreckend Durchorganisiert. Jede Insassin erhielt bei Einlieferung eine Häftlingsnummer und ein auf der Kleidung zu tragendes farbiges Dreieck. Kriminelle trugen grüne, Widerstandskämpferinnen und sowjetische Kriegsgefangene trugen rote Dreiecke, und Mitglieder der Bibelforscher bzw. Zeugen Jehovas wurden mit violetten gekennzeichnet. Mit schwarzen Dreiecken wurden als „asozial“ kategorisierte Häftling separat klassifiziert. Jüdische Frauen trugen statt eines Dreiecks den „Judenstern“. Schätzungen zufolge wurden mindestens 28.000 von ihnen durch Zwangsarbeit, Hunger, medizinische Experimente oder gezielte Tötung ermordet.

Zahlen, die ungeheuerlich sind und die es mir schwer machen, das Ausmaß des Grauens auch nur näherungsweise zu begreifen. Wirklich fassbar wird es für mich erst, wenn ich mit Einzelschicksalen befasse. Ich denke an drei Frauen aus meiner Heimat Ostfriesland, während ich über das Lagergelände streife:
- Gesche Janssen, eine junge Frau, deren Leben sich nach dem Verlust ihrer Arbeit und dem Tod ihres Kindes dramatisch veränderte – sie wurde als Mitglied der „Internationalen Bibelforscher“ (IBV, später: Zeugen Jehovas) nach Ravensbrück deportiert, wo die harten Haft- und Arbeitsbedingungen dazu führten, dass sie an Diphterie sowie Gelenkrheumatismus erkrankte und dadurch ein schweres Herzleiden erlitt.
> Link zur Biografie - Aaltje Tjabendina Staub lebte mit ihrer Familie in Emden, wo sie sich als KPD-Mitglied dem Widerstand anschloss. 1937 von der Gestapo verhaftet, kam sie über verschiedene Zwischenstationen nach Ravensbrück, wo sie schwerste Arbeiten leisten musste und Prügelstrafen „auf dem Bock“ über sich ergehen lassen musste, ehe ihr auf einem Transport am 27.04.1945 die Flucht gelang.
> Link zur Biografie - Klara Seligmann, geborene Sax, die mit ihrem Mann zunächst in Emden lebte, ehe sie in der Zeit des Nationalsozialismus mehrfach umziehen musste. Am 28. September 1940 wurde sie in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert, wo man ihr die Häftlingsnummer 4762 zuwies. Die extremen Haftbedingungen führten zu einer erheblichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands. Im April 1942 verbrachte man sie in die Tötungsanstalt Bernburg an der Saale. Eine Einrichtung, die zuvor Teil der sogenannten „Euthanasie“-Aktion T4 gewesen war. Unter dem Decknamen „Aktion 14f13“ wurden dort auch nach dem offiziellen Ende von T4 weiterhin Häftlinge ermordet, die als krank oder arbeitsunfähig galten. So auch Klara Seligmann, die am 22. April 1942 ermordet wurde.
> Link zur Biografie
Ich habe mich vor meinem Besuch in Ravensbrück mit ihrer Geschichte beschäftigt. Drei individuelle Schicksale, das von Gesche Janssen, Aaltje Tjabendina Staub und Erna de Vries, machen für mich das Leid der mehr als 140.000 Inhaftierten greifbarer. In ihren Lebenswegen spiegeln sich für mich die Dimensionen des Unvorstellbaren. Sie geben dem anonymen Grauen Gesichter und Geschichten. Und erinnern mich daran, dass hinter jeder Zahl ein Mensch steht. Menschen mit Hoffnungen, Familien, Lebensträumen wie du und ich. Sie wurden nicht etwa wegen tatsächlicher Vergehen inhaftiert, sondern allein durch ein verbrecherisches Regime entrechtet, entmenschlicht, inhaftiert und ermordet. Auf der anderen Seite standen ebenfalls Menschen wie du und ich. Scheinbar ganz normale Männer und Frauen, die in der Zeit des Nationalsozialismus zu Täter*innen wurden, zu Aufseherinnen und Wächtern. Viele von ihnen verrohten in der Ideologie, manche entwickelten eine erschreckende Brutalität und sadistische Grausamkeit.

Die Frage, was aus scheinbar normalen Menschen in unnormalen Situationen werden kann, lässt mich ratlos zurück. Wie wird aus dem Nachbarn, der Kollegin, dem Mitmenschen ein Teil eines Systems, das andere entwürdigt, quält und tötet? Was bringt jemanden dazu, wegzusehen – oder noch schlimmer: mitzumachen? Es sind Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Aber vielleicht liegt gerade in dieser Ratlosigkeit die wichtigste Erkenntnis: Lasst uns wachsam gegenüber Ausgrenzung, Hass und Gleichgültigkeit bleiben. Der ungeheure Terror begann im Kleinen. Mit Diskriminierung, mit Zuschreibungen, mit dem stillschweigenden Einverständnis einer Gesellschaft, die sich daran gewöhnte, dass einige Menschen weniger wert sein sollten als andere. Und die man deshalb unmenschlich behandelte und bis aufs Letzte auspresste. In den textilfabriken und im Siemenslager.

Nachdem ich das Hauptlagerareal von Ravensbrück durchschritten habe, stehe ich kurz darauf alleine in einem ruhigen, fast idyllischen Wald. Es fällt schwer zu glauben, dass genau hier einst Tausende Frauen unter unmenschlichen Bedingungen für Siemens arbeiten mussten. Das Siemenslager war das einzige Industrieareal innerhalb eines Konzentrationslagers. Es hatte einen eigenen Gleisanschluss und verfügte über 20 Baracken für die Produktion und den Versand sowie acht, nach anderen Quellen 13 Wohnbaracken für die Frauen und Mädchen. Produziert wurden neben Feldtelefonen und Mikrofonen hauptsächlich elektronische Rüstungsgüter. Heute muss man schon sehr genau hinsehen, um Überreste dieser gigantischen Fabrik zu finden. Hier und da ragen die Fundamente der ehemaligen Fertigungshallen aus dem Boden, ab und an weisen Informationstafeln auf Orte des Grauens hin. Ansonsten hat die Natur das Areal zurückerobert.


Das gesamte nationalsozialistische Lagersystem folgte einer grausam durchorganisierten Logik der Sortierung: nach Geschlecht, Alter, Herkunft, Religion, körperlicher Verfassung, sexueller Orientierung oder vermeintlichem „Fehlverhalten“. Besonders deutlich wird das in Ravensbrück, wo neben dem Frauen und Männerlager mit dem KZ Uckermark ein weiteres Lager bestand. Hier war die Jugend interniert. Mädchen und junge Frauen, die aus unterschiedlichsten Gründen als „nicht anpassungsfähig“ galten. Die das Regime mit stigmatisierenden Begriffen wie „asozial“, „arbeitsscheu“ oder „moralisch verkommen“ brandmarkte, weil sie nicht in das rassistische Weltbild der Nationalsozialisten passten, im Widerstand tätig waren oder sexuelle Beziehungen zu „fremdvölkischen Staatsangehörigen“ hatten.


Das Lager bestand aus hastig errichteten, schlichten Holzbaracken. Über die genauen Haftbedingungen im Lager ist nahezu nichts bekannt. Es gibt Schätzungen, dass von den 6500 in Uckermark inhaftierten Frauen etwa 4500 starben. Von 1942 bis Anfang 1945 diente das KZ Uckermark als sogenanntes Jugendschutzlager, bevor es in ein Sterbelager für kranke und geschwächte Frauen aus dem benachbarten KZ Ravensbrück umgewandelt wurde.
Nach der Befreiung nutzte die Rote Armee das Gelände bis 1993 als Militärstützpunkt. Bereits in den ersten Monaten nach Kriegsende ließ sie die Holzbaracken abreißen, sodass vom Lager Uckermark heute kaum noch bauliche Spuren erhalten sind. Lange Zeit geschah nichts – das Areal war dem Blick der Öffentlichkeit entzogen und gilt bis heute als eines der „vergessenen“ Konzentrationslager. Seit 1997 bemüht sich der Verein Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e. V., die Geschichte des Lagers aufzuarbeiten, Kontakte zu Überlebenden zu knüpfen und das Gelände in einen würdigen Ort des Erinnerns zu verwandeln. Und das ist durchaus gelungen, wie ich finde. Auch hier erinnern Stelen an Einzelschicksale und lassen das, was heute nicht mehr sichtbar ist, plötzlich ganz konkret vor meinem inneren Auge auftauchen.

Mein Besuch endet dort, wo er begonnen hat: Im Hauptlager von Ravensbrück. An der steinernen Umfassungsmauer steht ein Wachturm. Erst später erfahre ich, dass dieser Turm nicht aus der Zeit des Konzentrationslagers stammt, sondern von der Roten Armee errichtet wurde, die das Gelände bis 1993 nutzte. Eine Kaserne im ehemaligen Konzentrationslager ist für mich eine weitere Merkwürdigkeit der Geschichte des Geländes. Aber so paradox es klingt: Gerade weil das Gelände von der Roten Armee weiter genutzt wurde, sind viele Strukturen des ehemaligen Lagers nicht dem völligen Verfall oder der Überbauung anheimgefallen.

Als ich das Lager schließlich verlasse, zeigt sich mir mit der Wohnsiedlung für die SS-Aufseherinnen ein weiteres Paradoxon. Fast malerisch stehen die Häuser am Waldrand, in unmittelbarer Nähe zum Ort des Grauens, den ihre Bewohnerinnen täglich betraten. Mit ihren Holzbalkonen und den Fensterläden wirken die Gebäude wie ein idyllisches Dorf. Fast jedenfalls. Irgendwie ist mir die Heimatschutzarchitektur zu kantig, zu streng, zu kalt. Und das Wissen um die ehemaliegn Bewohnerinnen lässt mich erschaudern. Heute befindet sich in einem Teil dieser Anlage eine Jugendherberge. Dass hier junge Menschen übernachten, lernen und sich mit der Geschichte des Ortes auseinandersetzen, finde ich großartig. Die Geschichte der Gebäude bleibt und wird weitergeschrieben. Wo einst der Terror zu Hause war, begegnen sich heute junge Menschen. Setzen sich mit der Vergangenheit auseinander, lernen, diskutieren, sind kreativ, singen, lachen. Aus einem Ort der Unmenschlichkeit ist ein Raum der Begegnung geworden. Mit anderen, mit sich selbst und den tiefsten Abgründen der menschlichen Psyche.

Ich kenne viele Menschen, die sich bewusst gegen einen Besuch von Konzentrationslagern entscheiden. Sei es, weil sie das Grauen nicht ertragen, die Bilder nicht vergessen könnten oder weil es ihnen schlicht zu nahegeht. Ich verstehe das. Und doch habe ich für mich einen anderen Weg gewählt. Für mich bedeutet das bewusste Hinsehen, das Gehen an diese Orte, ein Akt des Erinnerns und der Verantwortung. Es ist immer wieder schmerzhaft, aber es lässt das Unfassbare für mich ein Stück greifbarer werden. Und führt mir immer wieder vor Augen, dass so etwas nie wieder geschehen darf.


























